Samstag, 28. November 2009

Emmy Goldacker: Ich lebe - genügt das nicht? (Knaur)


Emmy Goldacker kennt nur das sorglose, wohlbehütete Dasein einer höheren Tochter - bis ihr Vater 1938 nach Palästina flieht. Da endet die Idylle, denn zur Strafe wird das Vermögen der Familie eingezogen. Und statt zur Lehrerin wird Emmy zur Spionage ausgebildet. Um ihre Verwandten nicht zu gefährden, übersetzt, tippt und funkt sie, wie es von ihr verlangt wird.
Nach Kriegsende atmet Emmy auf - doch sie hat sich zu früh gefreut. Denn sie wird denunziert, verhaftet, und für zehn lange Jahre ins Straflager nach Sibirien verschleppt. Wie sie diese schwere Zeit überstanden hat, das hat sie in diesem Buch niedergeschrieben. Sie setzt damit zugleich all jenen ein Denkmal, die nach dem Krieg  die Deportation bei Hunger, Kälte und härtester Arbeit nicht überlebt haben. Ein ergreifendes Dokument.

Prädikat: ****

Freitag, 27. November 2009

Luc Deflo: Ins blanke Messer (Knaur)


Eine Leiche wird gefunden - und obwohl Gesicht und Hände mit Säure zerstört wurden, steht schnell fest, dass es sich bei dem Toten um einen Drogenfahnder handelt. Kurz darauf kommen unter mysteriösen Umständen zwei Marokkaner ums Leben. Und die Polizei bringt mit Razzien zusätzlich Unruhe in das Städtchen Mechelen. Ermittler Dirk Deleu kommt einiges merkwürdig vor - so merkwürdig, dass er sogar seinen Job hinschmeißt. Das filmreife Finale zeigt, dass seine Bedenken berechtigt waren.
Die Täter jedenfalls finden sich nicht in den Reihen der Illegalen und der Einwanderer, wie die braven Belgier zunächst glauben. Am Ende stirbt ein Polizist, erschossen von den eigenen Kollegen. Er war der Killer eines durchgeknallten Ex-Staatsanwaltes, der gerne Gott geworden wäre. Oder zumindest Minister. Juristisch ist dem Mann nicht beizukommen, die Ermittler ärgern sich. Doch die Ultrarechten, die er benutzte, rächen sich - und dabei sind sie sich ausnahmsweise mit den Muslimen einig, die sie sonst so verabscheuen: Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Luc Deflo, Belgiens Thrillerautor Nummer Eins, hat hier zum groben Pinsel gegriffen. Dieser Krimi ähnelt einer Komödie, bei der das Publikum immer mehr weiß als die handelnden Personen. Man möchte dem Polizisten zurufen: Achtung, dort ist der Mörder! Der Spannung tut das nicht gut.

Prädikat: **

Dienstag, 24. November 2009

Tolstois Flucht und Tod (Diogenes)


Wie kommt es, dass der greise Tolstoi nicht friedlich zu Hause im Bett, sondern auf der Flucht, beim Vorsteher der Bahnstation Astapowo, starb? In diesem Büchlein versucht seine Tochter Alexandra, eine Antwort auf diese Frage zu geben.
Die Vorgeschichte ist dramatisch. Graf Leo Nikolajewitsch Tolstoi war einst ein Gutsherr wie viele im alten Russland. Er heiratete, kümmerte sich um sein Anwesen, empfing Gäste, schrieb Romane und spielte Klavier. Irgendwann aber bemerkte er, in welch unbeschreiblichem Elend viele Menschen in seiner Umgebung lebten. Und er wollte all sein Eigentum diesen Armen geben. Seine Frau freilich, verantwortlich für Wirtschaft und Kinder und daher wohl mit etwas mehr Sinn für Realitäten ausgestattet, zeigte sich entsetzt und mitnichten begeistert von der Aussicht auf Armut, Dreck und Hunger.
So blieb mehr oder weniger alles, wie es war. Doch Tolstoi konnte seinen Ruhm und sein Vermögen nicht mehr genießen; ihn plagte sein Gewissen, und mehrfach versuchte er, seinem vermeintlichen Reichtum, den er als Unrecht empfand, zu entfliehen. So auch am Ende seines Lebens, wo er auf eine letzte Reise ging - in bester mittelalterlicher Tradition, wie die Könige, die sich zum Sterben ins Kloster zurückzogen.
Die Kirche aber wollte mit dem Schriftsteller nichts zu tun haben. Aufgrund seiner Lehren galt er den Orthodoxen als Ketzer. Und die Behörden fürchteten gar, sein Tod könne der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gefährlich werden. ---
Die letzten Kapitel der Lebensgeschichte eines Utopisten. Etliche Überlegungen und Auseinandersetzungen, die die Menschen damals in Russland bewegten, sind heute nur noch schwer nachzuvollziehen. Dennoch erleichtert die Beschäftigung mit Tolstois Biographie den Zugang zu seinem Werk. Deshalb sollte man dieses Büchlein gelesen haben.

Prädikat: **

Urs Widmer: Herr Adamson (Diogenes)


Was hat der Archäologe Schliemann, der Entdecker des Goldschatzes von Troja, mit den Navajo zu tun? Und wieso erscheint ein Greis einem kleinen Jungen, stiftet diesen zu allerlei Unfug an - und erweist sich dann als ein Schatten, auf der Suche nach seiner Enkelin Bibi, der er eigentlich noch allerhand mitteilen wollte.
Urs Widmer verknüpft in seinem brillanten, wenn auch etwas makaberen Roman Traum und Wirklichkeit, Diesseits und Jenseits, Hölle und Paradies. Der Leser freilich ahnt anfangs nichts davon - und fängt bald an, sich zu wundern.

Prädikat: ****

Montag, 23. November 2009

Clara Kramer: Eine Handbreit Hoffnung (Droemer)


Als die Nazis Galizien besetzen, hat in dem Städtchen Zólkiew bei Lemberg niemand Illusionen darüber, was sie mit den Juden anstellen werden. Dennoch harren die 5000 jüdischen Bewohner aus. Denn die Flucht zu den Russen, die das Städtchen vorher besetzt hielten, gilt ihnen nicht wirklich als Alternative.
Als die SS wenig später beginnt, die Juden zusammenzupferchen und zu ermorden, gelingt es einigen Familien, unterzutauchen. So versteckt Familie Beck erst 15, dann schließlich 18 Menschen in einem engen und niedrigen Kellerloch unter dem Fußboden ihres Hauses. Vom Dezember 1942 bis zum 24. Juli 1944 harren sie dort aus, in Hunger, Furcht, drückender Hitze und qualvoller Enge. Über ihnen, durch die Holzbretter des Fußbodens nur zu gut zu hören, gehen die Deutschen aus und ein.
Clara Kramer, damals ein Schulmädchen in besten Backfisch-Alter, erzählt in diesem ergreifenden Buch von ihren Erlebnissen im Keller-Asyl, von der Jagd der Deutschen auf ihre Schulfreundinnen und Verwandten, und vom Judenhass der Polen und Ukrainer, die sich nur zu gern an den Plünderungen und an der Ausrottung ihrer Mitbürger beteiligten. So sterben noch wenige Stunden vor dem Einmarsch der Russen Juden - verraten für fünf Liter Schnaps...
Dieses Buch macht den Leser fassungslos. Zumal auch diejenigen, die aus dem Wald oder aus ihren Verstecken zurückkehren, in Zólkiew keine Zukunft mehr haben. Nur 50 jüdische Männer, Frauen und Kinder überleben das sinnlose Morden. Keiner von ihnen bleibt in der Stadt.

Prädikat: *****

Sonntag, 22. November 2009

Anne Donovan: Emily sein oder nicht sein (Luchterhand)


Fiona liebt die Romane von Emily Bronte. Und sie liebt ihre Familie - wenn sie denn zur Besinnung kommt. Denn für das großartige Leben, von dem sie träumt, hat Fiona keine Zeit. Sie muss sich um ihre Schulaufgaben kümmern, um den Abwasch und um die Zwillinge Mona und Rona , ihre jüngeren Schwestern.
Doch dann bricht die Katastrophe über Fiona herein - mit voller Wucht und ohne Vorwarnung: Ihre geliebte Mammy stirbt im Kindbett, das Neugeborene ebenfalls. Und ihr Vater versinkt in seiner Trauer und im Alkohol. Als er im Suff die Wohnung in Brand steckt, stellt sich heraus, dass er obendrein die Versicherung nicht mehr bezahlt hat.
Donovan erzählt die Geschichte eines ganz und gar nicht normalen Teenagers. Ein großartiger Roman, in bester britischer Tradition. 

Prädikat: ****

Donna Leon: Blutige Steine (Diogenes)


Eine Leiche liegt auf dem Campo Santo Stefano. Und niemand hat Interesse daran, herauszufinden, wer die Person war, und wieso sie umgebracht wurde. Selbst zwei Ministerien wäre es lieb, wenn Brunetti keine Ermittlungen anstellen würde - ein Illegaler halt, von irgendwo aus Afrika. Denn es sind Diamanten im Spiel, Geheimdienste und unsaubere Geschäfte.

Prädikat: ****

Joris-Karl Huysmans: Tief unten (Diogenes)


Wie schreibt man im Paris des Fin de siècle einen Bestseller? Joris-Karl Huysmans kannte das Rezept: Man beziehe sich auf eine laufende Debatte, mache sich über möglichst viele Mit-Denker und -Schreiber möglichst geistreich lustig - und suche sich ansonsten ein Tabu, und breche es lustvoll.
Was Huysmans Zeitgenossen amüsiert, inspiriert oder auch empört hat, das ist für uns heute freilich kaum noch nachzuvollziehen. Und so lesen sich seine Romane zunächst ziemlich zäh; ihre Magie entfaltet sich eher in der Konsequenz, mit der die Helden seiner Bücher ihre Lebensexperimente absolvieren.
In "Gegen den Strich" zieht sich der Aristokrat Des Esseintes zunehmend aus der realen Welt zurück, in das selbst gewählte Exil seines Anwesens, in sein vertrautes Gehäuse, seine Inszenierung - und in seine Lektüre, die keineswegs so zufällig gegriffen wird, wie der Autor mitunter behauptet.
In "Tief unten" lässt Huysmans seinen Helden Durtal über Gilles de Rais schreiben, einen sagenumwobenen Verbrecher, der im 15. Jahrhundert verbrannt wurde. Das ist die Matrix - und der Anlass für einen Roman über den Satanismus, der mit seinen Beschreibungen kultischer Handlungen seinerzeit wohl nicht nur zartbesaitete Gemüter in Wallung versetzt haben dürfte.
All dies ist Literatur über Literatur, mehrfach verschachtelt und komplex bis zum Abwinken. Dem Verlag ist zu danken, dass er solche Denkmale der Weltliteratur zugänglich macht. Doch das Interesse für Huysmans Werke dürfte mittlerweile vorwiegend literaturhistorischer Natur sein.

Prädikat: **

Samstag, 21. November 2009

Letizia Conte: Villa Monteverde (Knaur)


Vor gut 30 Jahren erhielt Annes Mutter ein Ferienhaus in Umbrien geschenkt. Dorthin zieht sich Anne zurück, um eine unglückliche Liebe zu vergessen. Ebenso wie die Casa Stregata möchte sie ihr Leben gern wieder in Schuss bringen. Doch warum wird sie in der Villa Monteverde so unfreundlich empfangen? Und wieso will Patrizio, der Sohn des Grundbesitzers, Anne schnellstens wieder loswerden?
Passable Unterhaltung, akzeptabel geschrieben - wenn man mal viel Langeweile hat, dann kann man so etwas lesen. 

Prädikat: *

C. A. Belmond: Erbin sucht Traummann (Knaur)


Penny reist nach Nizza, um das Erbe ihrer verstorbenen Großtante anzutreten. Einigermaßen erstaunt besichtigt sie den so unverhofft erworbenen Schatz: Eine Garage voller Gerümpel, nebst einem verrosteten Oldtimer.
Großtante Penelope wird damit wohl einen Plan gehabt haben, meint Penny - aber welchen? Überraschung! denn die Villa nebenan erbt Anwalt Jeremy...
Ein Sommerroman, der durchaus geeignet ist, seine Leserin über ein paar verregnete Tage hinweg zu trösten. Brillante Unterhaltung.

Prädikat: *

Karyn Bosnak: Zwanzig Männer sind genug (Knaur)


Delilah Darling, 29 Jahre alt, hält sich für ein Flittchen. Denn sie hat bereits mit 19 Männern geschlafen - und wacht nun obendrein in den Armen ihres schrecklichen Ex-Chefs auf. 20 Männer aber sind genug, meint die Designerin. Und macht sich auf, unter ihren Verflossenen den Traumprinzen aufzuspüren, den sie bislang wohl übersehen hat.
Beste Unterhaltung für weibliche Leser mit bescheidenen Ansprüchen. Wer nicht unbedingt auf Cosmopolitan, Vogue und Glamour steht, wird sich aber möglicherweise langweilen.

Prädikat: *

Martin Suter: Das Bonus-Geheimnis (Diogenes)


Kleine und gemeine "Geschichten aus der Business Class". Davon hat Suter schon eine Menge geschrieben - doch erstaunlicherweise fällt ihm immer wieder etwas auf, was mitteilenswert ist. Suter beobachtet die Manager und ihr Verhalten in freier, globalisierter Wildbahn. Und notiert dann mit spitzer Feder, mit welchen Banalitäten sich die Elite-Angestellten tagtäglich herumschlagen mussen. Präzise, boshaft und sprachgewaltig - rabenschwarze Pointe garantiert!

Prädikat: ****

Freitag, 20. November 2009

Das große Märchenbuch (Diogenes)


Wer mit Kindern auf Reisen geht, der sollte dieses kleine Büchlein ins Gepäck legen. Denn es enthält allerbesten Vorlesestoff, und das schier unerschöpflich. Denn Herausgeber Christian Strich hat unter den Märchen Europas die hundert schönsten ausgewählt - quer durch Stoffe und Herkunft. Was für ein Kompendium!

Prädikat: *****

Patricia Highsmith: Geschichten von natürlichen und unnatürlichen Katastrophen (Diogenes)


Was ist eine Katastrophe? Ein Ereignis, das das Leben einer Gemeinschaft unabwendbar und nachhaltig beeinträchtigt. Patricia Highsmith hat in ihrem Buch einen ganzen Kosmos möglicher Störfälle zusammengetragen.
Man sollte sich hüten, ihre Geschichten als Horrorstories abzutun. Denn die Autorin beobachtet die Gesellschaft mit wachem bis boshaftem Blick, und hält ihr in diesen Erzählungen gnadenlos den Spiegel vor. Wer wissen möchte, welche Meinung Highsmith zu diesem oder jenem aktuellen Thema hat - in diesen kurzen Texten findet er sie ziemlich unverblümt formuliert. Und zugleich luzide, lakonisch, in bösen Pointen auf den Punkt gebracht. Wer ein Buch sucht, um das Gruseln zu lernen - hier ist es!

Prädikat: ****

Richard Kunzmann: Blutige Ernte (Knaur)


Die Leiche eines Kindes wird gefunden - ausgeweidet und ausgeblutet, und in der Nähe liegt obendrein ein Fetisch. Das Obduktionsergebnis schockiert Detective Harry Mason. Denn die Schnitte erfolgten offenbar am lebendigen Menschen.
Mason ist überzeugt davon, dass dies das Werk eines irrsinnigen Serienmörders ist. Sein Partner Jacob Tshabalala hingegen glaubt an einen ebenso bösen wie mächtigen Zauber, und fürchtet sich davor, die Ermittlungen fortzusetzen.
Doch die Morde nehmen überhand, so dass selbst in Südafrika, wo ein Toter mehr oder weniger eigentlich kein Thema ist, die Medien allmählich aufmerksam werden. Und schon bald kommt Bewegung in den Fall.
Kunzmanns Debüt erweist sich als brutaler, schockierender Thriller. Der Roman ermöglicht den Blick hinter die Kulissen einer Nation, die zwischen Steinzeit und Industriegesellschaft zerrissen wird. Da ist es leicht, persönlichen Profit auf Aberglauben zu gründen. Doch irgendwann macht jeder Fehler - auch jener namenlose Albino, der glaubt, weit über dem Gesetz und seinen Mitbürgern zu stehen. Kunzmanns Prognose freilich ist wenig optimistisch.

Prädikat: ***

Donnerstag, 19. November 2009

D. H. Lawrence: Gesammelte Erzählungen und Kurzromane (Diogenes)


Dies ist ohne Zweifel ein Klassiker. "Sieht man doch auf den ersten Blick, schon an dem Aufwand, den der Verlag mit dem eleganten Schuber und dem Leineneinband treibt", mag der Ignorant jetzt seine Stirn runzeln.
Was also hebt die Erzählungen von David Herbert Lawrence aus der großen Masse des Gedruckten heraus? Warum sollte man diese dicken Bände lesen, trotz der kleinen Schrift, diese vielen bedruckten Seiten? Weil diese Texte einmalig sind. Denn ihr zentrales Thema ist die Freiheit. Es schimmert an jeder Ecke hervor - auch wenn Lawrence scheinbar banale Begegnungen beschreibt, oder das Ringen der Menschen um ihren Platz in dieser Welt.
Natürlich sind auch diesem Schriftsteller Texte mehr oder minder gelungen. Aber grundsätzlich ist Lawrences Prosa ein Lesevergnügen. Man muss allerdings sehr genau hinschauen, denn sie lebt in der Andeutung - und ist nicht nur darin very british.

Prädikat: *****

Mittwoch, 18. November 2009

Andrej Kurkow: Herbstfeuer (Diogenes)


Geschichten aus der Ukraine, mit ziemlich bösen Pointen. Skurrile Geschichten von Ehemännern, die gemeinsam mit den Bergen von Stockfisch, die sie hinterlassen haben, verbrannt werden. Von Schriftstellern, die im Ausland eine neue Leber bekommen haben -  illegal entnommen, wie sich herausstellt, was die Beschlagnahme des sozusagen lebendigen Beweises durch den Zoll bedeutet. Und von schwarzen Telefonzellen, in denen man mit Verstorbenen telefonieren kann. Kurkow erweist sich erneut als ein Meister der Groteske - doch sein Humor ist tief rabenschwarz...

Prädikat: *****

Dick Francis: Gambling (Diogenes)


Am Cheltenham Gold Cup Day gibt es gleich drei Tote: Ein Pferd , ein Jockey und ein Zuschauer. Der Jockey hat sich nicht etwa den Hals gebrochen; in seiner Brust finden sich vielmehr Einschusslöcher.
Stallbesitzer Lord Enstone beginnt zu grübeln - zumal seine Pferde schon seit einigen Monaten keine Rennen mehr gewinnen. Privatdetektiv Sid Halley soll herausfinden, ob bei den Rennen alles mit rechten Dingen zugeht. Dieser Auftrag erweist sich als eine harte Nuss, und das Ergebnis macht Lord Enstone nicht glücklich.
Die Krimis von Dick Francis sind literarische Kabinettstückchen, wunderbar geschrieben, mit Sinn für das richtige Tempo, gewürzt mit einer Prise Ironie. Nicht nur Freunde der Rennbahn werden sich für "Gambling" begeistern.

Prädikat: *****

Tobias Micke: Kuhl! (Knaur)


Tobias Micke, bekennender Städter, hat es getan: Mit einer Herde Rinder ist er über den Sommer auf die Alm gezogen - und zwar in eine "klassische" Hütte, Komfort: etliche Sterne, und zwar am Himmel, plus Kuh-Muh. Viel Stille, noch mehr Arbeit, und die Verantwortung fürs liebe Vieh und sein Wohlergehen.
Ebenso begeistert wie wortgewaltig berichtet Micke von seinen Erlebnissen hoch droben im Gebirge. Warnung: Dieses Buch macht süchtig. Und es macht obendrein Muh.

Prädikat: ****

Karen Rose: Todesbräute (Knaur)


In einem Kaff in Georgia wird eine Leiche gefunden, weiblich, nackt, in eine Decke gewickelt - und grausam zugerichtet. Special Agent Daniel Vartanian wird sofort an einen alten Fall erinnert, der etliche Jahre zurückliegt und nie aufgeklärt wurde. Offenbar ist der Mörder zurück. Denn es finden sich weitere Tote, die genauso verstümmelt wurden.
Karen Rose setzt ihren Thriller "Todesschrei" fort. Band zwei ist in Maßen spannend; er hat seine Längen, und kann stilistisch auch nicht restlos überzeugen. Insbesondere das Finale macht deutlich, dass ein Autor nur ein bisschen überziehen muss - und schon ist seine Story beschädigt.

Prädikat: *

Iris Kammerer: Varus (Heyne)


Er wollte nicht auf Warnungen hören - und nun wird seine Armee abgeschlachtet. Iris Kammerer zeichnet in ihrem Roman das Bild eines römischen Feldherrn, der einem schweren Irrtum anheimfällt. Denn Arminius, sein Freund und Ratgeber, hat die Fronten gewechselt. Aus dem römischen Lager heraus führt er die germanischen Stämme in den Kampf gegen die verhassten Besatzer. Varus aber vertraut ihm - und marschiert mit seinen Truppen in eine Falle, aus der es kein Entrinnen geben soll.
In diesem Buch vertritt die Altphilologin Kammerer ihre eigene Version der Ereignisse im Teutoburger Wald. Brillant erzählt sie, wie die Germanen Fertigkeiten, die sie von den Römern erworben haben, nutzen, um Varus' Legionen nebst Tross zu erschlagen.Bei dem Massaker sterben innerhalb von drei Tagen 18.000 Soldaten nebst Dienern, Frauen und Kindern. Grausam, nicht sehr appetitlich, aber wahrscheinlich realistisch.

Prädikat: ****

Lena Johannson: Die Bernsteinsammlerin (Knaur)


Der berühmte Lübecker Rotspon hat die Thuraus reich und mächtig gemacht. Ihre Tochter Femke vertreibt sich die Zeit damit, kleine Meisterwerke aus Bernstein zu schnitzen. Als Napoleons Soldaten die Stadt erobern, kann sie ihrer Familie das Überleben sichern, dank ihrer Kunstfertigkeit - und weil sie einen hohen französischen Offizier schwer beeindruckt hat.
Doch irgendwann gehen die Bernstein-Vorräte zu Ende. Femke reist nach Stolp, um neues Material zu erwerben. Dort erlebt sie eine Überraschung, die ihr ganzes Leben verändert. Ein Frauenschicksal, grundsolide erzählt und mit Geschick gestaltet.

Prädikat: ***

Caroline Kington: Schönwetterwolken (Knaur)


Die Marsh Farm in der Nähe von Bath steht kurz vorm Ruin. Großmutter Elsie greift hart durch: Ihre beiden Enkel sollen gefälligst heiraten, und den Hof wieder auf Vordermann bringen. Gelingt ihnen das nicht, darf sich die ganze Sippe als enterbt betrachten.
Perfekte Sommerlektüre für Städter, die vom Landidyll träumen.

Prädikat: **

Giles Blunt. Eisiges Herz (Knaur)


Detective John Cardinal erkennt die Leiche, zu der er gerufen wurde: Es ist Catherine, seine Frau. Und alles sieht nach Selbstmord aus. Selbst ein Abschiedsbrief wird gefunden.
Doch nach der Beerdigung erhält der Detective immer wieder höchst zynische "Beileidskarten". Und irgendwann fällt Cardinal auf, dass erstaunliche viele Patienten des Psychiaters, bei den seine Frau wegen ihrer Depressionen in Behandlung war, ums Leben kommen.
Ein erstklassiger Thriller - schnell, brachial und immer wieder überraschend.

Prädikat: ****

Bärbel Probert-Wright: An der Hand meiner Schwester (Knaur)


Im Frühjahr 1945 machen sich Eva, gerade 19, und ihre kleine Schwester Bärbel, sieben Jahre alt, auf die Suche nach ihrer Mutter. Ihr Weg führt sie vom thüringischen Tabarz über Jena, Halle und Wiedersdorf bis nach Hamburg. Quer durch Deutschland, durch ein zerstörtes Land und eine kollabierende Gesellschaft, zu Fuß - und meistens alleine.
Die Mädchen begegnen Soldaten, Flüchtlingen, Plünderern - Tausende irren umher, und die meisten sind als Reisegefährten nicht zu empfehlen. Viele Menschen sind von den erlebten Kriegsgräueln abgestumpft, sie leiden unter Hunger, Dreck und Ungeziefer, und einige von ihnen sind obendrein auf Rache aus für das erlittene Unrecht.
Anhand des Tagebuches ihrer großen Schwester berichtet Bärbel Probert-Wright über das Erlebte. Dieses Buch sollte - zumindest in Auszügen - Pflichtlektüre an unseren Schulen werden.

Prädikat: ****

Dienstag, 17. November 2009

Gabriele Beyerlein: Berlin, Bülowstraße (Knaur)


Gabriele Beyerlein führt ihre Leserinnen in das Berlin der Kaiserzeit. Zwar ist eine Dienstmagd noch immer eine Dienstmagd. Doch die höheren Töchter wollen nicht unbedingt mehr verheiratet werden - schon gar nicht standesgemäß, in einer arrangierten Ehe. Das gilt auch für Sophie, die aus ruiniertem, aber adligem Hause stammt, und gern Schriftstellerin geworden wäre. Zumindest eine Liebesehe kann sie sich ertrotzen - aus der mittellosen Baronesse von Zietowitz wird Frau Dr. Schneider. Und deren Tochter, Charlotte, will sogar Abitur machen, und Medizin studieren.

Prädikat: ***

Michaela Vieser: Heimatkunde für Fortgeschrittene (Knaur)


Kuriositäten aus der Heimat: Eine "Stadt mit Köpfchen", das sich als riesiges Denkmal entpuppt, ein winziges Städtchen im Vogtland, das sich zum Mittelpunkt der Erde erklärt hat, fantastische Häuser, Gartenzwerge, Kakteen, Mumien und sogar Saurier hat die Autorin in Deutschland aufgespürt. Nicht alles, was sie in diesem Buch locker-flockig zum Lobe der Provinz aufgeschrieben hat, stimmt hunderprozentig. Aber wer Lust hat, seine Heimat einmal abseits der üblichen Touristenrouten zu erkunden, der kann sich hier eine Menge Anregungen holen.

Prädikat: ***

Sebastian Fitzek: Der Seelenbrecher (Knaur)


Auch dieses Buch vom Meister des Psycho-Grusels wird wohl ein Bestseller werden. Und das, obwohl Fitzek gleich mehrfach verschachtelt erzählt. Das Phänomen des Vexierspiegels, der bekanntlich die Realität verzerrt wiedergibt, nutzt der Autor als literarisches Prinzip. Und aus jeder Perspektive ergibt sich eine Lösung, die zwar stimmig erscheint, am Ende aber den Fall nicht zu erklären vermag.
Atemlos folgt der Leser Fitzek durch die brutale Geschichte. Was scheinbar harmlos beginnt, steigert sich bis zum Wahn. Grandios!

Prädikat: ****

Dick & Felix Francis: Abgebrüht (Diogenes)


Max Moreton, erst kürzlich mit einem Stern ausgezeichnet, kocht für ein Galadinner am Rande eines großen Pferderennens. Das Menü aber hat unerwartete Auswirkungen: Gäste und Mannschaft bekommen eine Lebensmittelvergiftung, nicht wenige müssen sogar ins Krankenhaus. Das ist mit Sicherheit nicht gut für die Karriere.
Am nächsten Tag aber wird alles nur noch schlimmer. Denn das Restaurant wird von der Hygiene versiegelt. Und wenig später explodiert bei einem Sponsoren-Essen, das Moreton trotz seines revoltierenden Magens pflichtbewusst managt, eine Bombe.
Statt sich um sein kleines, aber feines Restaurant zu kümmern, muss der Koch um seinen Ruf kämpfen - und wenig später auch um sein Leben. Ein brillanter Krimi, den Dick Francis gemeinsam mit seinem Sohn Felix geschrieben hat. Atemberaubend rasant, voll falscher Fährten - und mit einem überraschenden Finale.

Prädikat: ****

Ulrike Schweikert: Die Hexe und die Heilige (Knaur)


Sibylla und Helena, die Zwillinge vom Sternwirt, haben das Zweite Gesicht. Die beiden Fünfjährigen haben vorhergesagt, dass ihr Vater auf einer Reise ums Leben kommen wird. Und der Pfarrer hat das gehört. Zu einer Zeit, als die Menschen überall Hexen und Unholde sahen, kann das böse Folgen haben. Sibylla wird schnell in die Fremde geschickt; Helena kommt ins Kloster.
Doch der Beruf der Hebamme ist ebenfalls gefährlich, und einen allzu wachen Geist sehen Männer bei einer Frau gar nicht gern. Die Scheiterhaufen lodern. Und schon bald gerät Sibylla in die Fänge der Inquisition. Ulrike Schweikert erzählt vom Leben in Deutschland zur Zeit der Gegenreformation - spannend, gut lesbar und immer wieder mit einer verblüffenden Wendung überraschend.

Prädikat: ***

Luc Deflo: Totenspur (Knaur)


Grausam verstümmelte Leichen werden gefunden. Die Polizei ist sich schon bald sicher, dass es sich um einen Serienmörder handelt. Die Spur aber erweist sich als lang; selbst in den USA hat der Täter möglicherweise gehaust. Die Toten: Durchweg groß, schlank, blond - und wohlhabend.
Luc Deflo beschert den Lesern einen Thriller allererster Güte. Warnung: Als Bettlektüre ist das Buch nicht zu empfehlen.

Prädikat: ****

Montag, 16. November 2009

Lena Falkenhagen: Das Mädchen und der Schwarze Tod (Heyne)


Die Pest grassiert in Lübeck, und die Bürger fürchten sich. Zur Abwehr der Seuche lassen sie sich eigenwillige Dinge einfallen. So soll der junge Maler Notke in der Marienkirche einen Totentanz malen. Und die Pestbruderschaft St. Blasius liefert die Toten dazu, wie Marike, die Tochter des Kaufmanns Pertzeval, schließlich herausfindet. Sie werden in einem heidnischen Ritual Vedes, dem Herrscher der Unterwelt, geweiht. Es dauert lange, bis Marike begreift, dass ihr Vater der Initiator dieses makabren Treibens ist. Ein grusliges Buch, gut recherchiert, und spannend bis zum Schluss.

Prädikat: ****

Jörg Kastner: Die Tulpe des Bösen (Knaur)


Durch das "Tulpenfieber", die hochriskante Spekulation mit Tulpenzwiebeln, verloren im 17. Jahrhundert viele Niederländer Hab und Gut. Doch die "Verehrer der Tulpe", Amsterdamer Honoratioren, treffen sich noch immer einmal wöchentlich im Gasthaus, als wäre nichts geschehen. Bis Bankier de Koning auf dem Heimweg niedergestochen wird. Der einzige Hinweis auf den Mörder: Ein Blütenblatt in seiner Hand.
Weitere Tote folgen. Und auch sie halten dieses seltsame Blatt in Händen. Inspektor Katoen findet bei seinen Ermittlungen bald heraus, dass es von der Tulpe des Bösen stammt, einer extrem raren Sorte, die einst im osmanischen Reich gestohlen wurde. Doch wer besitzt Exemplare davon? Und warum all die Toten?
Jörg Kastner, von Haus aus Jurist, hat einen perfekten historischen Krimi geschrieben. Inhaltlich wie handwerklich rundum gelungen, erzählt mit Esprit und auch mit Ironie. Meine Empfehlung!

Prädikat: ****

Ursula Niehaus: Das Heiligenspiel (Knaur)


Eine Intrige führt dazu, dass Anna aus Augsburg ausgewiesen wird. Durch Zufall trifft sie auf eine alte Frau, die ihr Wissen über die Heilkraft der Kräuter an sie weitergibt und dafür sorgt, dass sie zu Mutter und Schwester zurückkehren darf.
Durch Zufall aber kommt auch das Gerücht auf, Anna sei eine Hungerheilige, die nur die Hostie zu sich nimmt. Mehrfach versucht Anna, sich dagegen zu verwahren - aber die Leute, die ihren klugen Rat und ihre Heilkunst schätzen, wollen nichts davon wissen. Und auch ihre Mutter, die nicht schlecht davon lebt, vermarktet das Wunder, wo immer es geht.
Ein gefährliches Spiel - wie lange wird die Täuschung gelingen? Ursula Niehaus folgt dem Lebensweg der Anna Laminit, wohl tatsächlich eine historische Gestalt, und gibt ihr Stimme und Farbe. So entsteht ein buntes Historiengemälde süddeutschen Bürgerlebens im Spätmittelalter. Spannend bis zur letzten Seite!

Prädikat: ****

Preethi Nair: Der Duft der Farben (Knaur)


Nina lebt in London, doch ihre Familie plant, als wäre sie noch immer in Indien: Das Töchterlein soll eine gute Partie ehelichen - natürlich einen Inder! - und dann zu Hause bleiben. Enkelkinder sind erwünscht. Doch Nina hat andere Pläne. Ihren Job als Anwältin hat sie geschmissen, und wenn sie noch immer pünktlich aus dem Hause geht, dann deshalb, weil dies die einzige Chance ist, sich Zeit zum Malen zu sichern.
Die Bilder, die sie im Atelier ihrer Freundin Gina geschaffen hat, sorgen auf dem Kunstmarkt für Aufregung. Doch es dauert noch eine ganze Weile, bis Nina es wagt, zu ihrer Kunst zu stehen - und zu einem Lebensentwurf, der sich deutlich von dem ihrer Eltern unterscheidet.
Preethi Nair inszeniert eine herrliche Komödie. Die Idee zu dieser Geschichte ist so köstlich, dass man der Autorin das eine oder andere schwache Detail gern verzeiht.

Prädikat: ***

Kari Köster-Lösche: Die Pestheilerin (Droemer)


Die Geschichte einer Reise quer durch Europa, im 14. Jahrhundert. Ganz freiwillig freilich ist Arinna nicht unterwegs: Der Reisegefährte, der ihr bei der Suche nach ihrem verschlepptem Bruder helfen sollte, hat sie an einen Sklavenhändler verkauft, und dieser wiederum hat sie an einen Kaufmann verschachert
Vor der Pest flieht ihr neuer Herr aus Konstantinopel. Doch auch auf dem Schiff, das ihn nach Italien bringen soll, finden sich nach wenigen Tagen die ersten Erkrankten. Arinna pflegt sie, und kann viele Leben retten. Bald schon genießt sie einen erstklassigen Ruf als Pestheilerin. Einige besonders abergläubische Zeitgenossen jedoch beobachten ihre Tätigkeit mit Mißtrauen und mit Furcht.
Spannend erzählt, solide gestaltet - noch eine Empfehlung für Freunde "historischer" Romane!

Prädikat: ***

Susanne Wahl: Kirschblüten im Wind (Heyne)


Katharina ist entsetzt. Ihr Vater will sie mit einem zwar reichen, aber bereits betagten Kaufmann verheiraten. Und ihr Jugendfreund Severin soll einen Arzt nach Japan begleiten, hat aber wenig Lust zu dieser beschwerlichen Reise. Kurz entschlossen verkleidet sich Katharina als Mann, und flüchtet auf dem Ostindiensegler - als Arztgehilfe.
Pflichtlektüre für alle Freunde "historischer" Romane im Stile von Iny Lorentz oder Ursula Niehaus. Dieses Buch ist sehr gut lesbar, und spannend erzählt.

Prädikat: ***

Corina Bomann: Die Spionin (Knaur)


Als sie für sich und ihre kleinen Geschwister ein Brot stiehlt, beobachtet die halbwüchsige Alyson einen Mord. Wenig später findet sie sich im Tower wieder. Im Verhör aber ist sie in der Lage, erstaunlich viele Details über das Opfer und die Täter zu berichten. Anstatt als Straßendiebin abgestraft zu werden, erhält das Waisenkind ein unglaubliches Angebot: Sie soll Sir Francis Walsingham, Minister von Elisabeth I., als Spionin dienen.
Statt Hunger und Dreck erfährt sie nun eine erstklassige Ausbildung. Doch schon bald muss sie erkennen, dass selbst am Hofe der Königin Gefahr und Verrat warten. Ein spannender historischer Roman, voll Tempo und voller Überraschungen.

Prädikat: ***

Bonnie Jo Campbell: Ein wilder Tag (Knaur)


David, zwölf Jahre alt und weitgehend auf sich gestellt, träumt davon, ein Farmer zu werden - wie Nachbar George. Weil aber seine Lunge nicht so will wie er, beschließt der Junge, sie zu trainieren. Mit der Zigarette, die sein Asthma vertreiben soll, kriecht David heimlich in Georges alte Scheune.
Eine groteske Geschichte über das Leben in Kalamazoo, Michigan - dort, wo es zwar sehr ländlich zugeht, aber schon lange niemand mehr tatsächlich ein Landleben führt. Lakonisch schildert Campbell, was die Bewohner des Ortes unternehmen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen und die Langeweile auszuhalten. Das liest sich ziemlich komisch, auch wenn einem mehrfach das Kichern im Halse steckenbleibt.

Prädikat: ****

Sonntag, 15. November 2009

Lukas Hartmann: Pestalozzis Berg (Diogenes)


Pestalozzi hat in einem Kloster, das von der französischen Revolutionsarmee verwüstet worden ist, eine Anstalt für Kriegswaisen aufgebaut. Es fehlt an allem, nicht zuletzt an der Akzeptanz durch die Mitmenschen; seine "Methode" zur Erziehung und Ausbildung der Armen wird eher belächelt als anerkannt.
Als er das Kloster räumen muss, weil es als Lazarett benötigt wird, bricht Pestalozzi zusammen. Zehender, Inhaber eines Hotels mit Badebetrieb auf dem Gurnigel bei Bern, nimmt den Gescheiterten auf und hilft ihm, sich zu erholen.
Hartmann erzählt von dieser großen Krise in Pestalozzis Leben. Sein Roman kreist um die große Frage, ob man dem einfachen Volk aus Elend und Armut helfen kann. Pestalozzi glaubt an seine "Methode" - Hartmanns spröder Text aber bleibt eher skeptisch, und zweifelt daran, dass bildungsbürgerlicher Fanatismus die Welt tatsächlich verändern kann.

Prädikat: ****

Emily Wu: Feder im Sturm (Knaur)


Diese Autobiographie bricht ein Tabu. Sie schildert "Meine Kindheit in China", so der Untertitel des Buches - und zwar zur Zeit der Kulturrevolution. Maos Rote Garden hausen unbeschreiblich. Denn die bisherige Elite soll ausgelöscht werden - vom Dichter bis zum Händler, und vom Lehrer bis zum Handwerker. Emily Wu ist die Tochter eines Professors, und ihr Vater hat obendrein in Amerika studiert.
Ein Volk von Bauern wünscht sich Mao. Und so werden, so sie denn bis dahin überlebt haben, die Familien auseinander gerissen. Die Intelligenz wird aufs Land geschickt; sie soll vom Bauern lernen. Verfolgung, Gewalt, Hunger und Demütigung - was Wu hier aufgeschrieben hat, das ist im Westen bislang noch viel zu wenig bekannt.
Doch wer dieses Buch gelesen hat, der wird entsetzt sein darüber, wie der chinesische Staat wohl noch heute mit seinen Bürgern umgeht. Und sich fragen, wie lange die Menschen dort sich die korrupten Funktionäre sowie ein Leben in Drangsal und Elend noch gefallen lassen.

Prädikat: *****

Tommy Jaud: Millionär (Scherz)


Die Geschichte vom Arbeitslosen, der dank einer cleveren Geschäftsidee zum Millionär wird. Tommy Jaud hat wahrscheinlich einige Jahre zuviel in Redaktionen von Comedy-Programmen verbracht. Die Grundidee dieses Buches ist eigentlich witzig, aber ihre Ausführung lässt dann doch einiges zu wünschen übrig. Humor ist ja ganz nett, aber wenn er schwallweise mit der Betonpumpe verabreicht wird, dann kann das beim Leser Übelkeit auslösen.

Prädikat: -

Miranda July: Zehn Wahrheiten (Diogenes)


Amerika, vollkommen ohne Glamour, wie man es nicht im Hollywood-Film sieht. Dieses Buch enthält 16 Short Stories mit durchweg äußerst merkwürdigen Helden, ihren Ideen und ihren Taten, die den Leser betreten weiterblättern lassen. Originell, und unheimlich.

Prädikat: ***

Kurt Peipe: Dem Leben auf den Fersen (Droemer)


62 Jahre alt ist Kurt Peipe, als er nach einer Operation erfährt, dass er schon bald an Krebs sterben wird. Halbwegs wieder auf den Beinen, bricht Peipe auf - von Flensburg nach Rom, zu Fuß, mit Rucksack und Zelt. Die Peipes haben so wenig Geld, dass seine Frau ihn auf dieser Reise nur ein paar Tage begleiten kann.
Gevatter Tod, dem künstlichen Darmausgang und dem knappen Konto zum Trotz, marschiert er durch die Lande. Dabei trifft Peipe viele Menschen, und die meisten helfen ihm freundlich weiter. So kommt der Wanderer voran, hat oftmals ein Dach überm Kopf und wird manchmal sogar an den gedeckten Tisch gebeten. Staunend hören diejenigen, die es interessiert, den Bericht von seiner Reise - wie schon vor hunderten von Jahren die Menschen den Geschichten lauschten, die ihnen Wandernde erzählten. Die Fortbewegung zu Fuß, das Bewältigen des Weges im Rhythmus des eigenen Atems und dank der schmerzenden Füße - das bleibt archaisch, zumal im Zeitalter der Automobile und Flugzeuge. Dem Wanderer bringt es intensive Eindrücke. Und Peipe brachte es auch zu sich selbst.
Nach 166 Tagen war der Wanderer, in jeder Hinsicht gestärkt, am Ziel: in Rom. Mittlerweile hat sich auch sein Lebensweg vollendet. Doch es bleibt dieses treffliche Büchlein, das berührt und beeindruckt.

Prädikat: *****

Michel de Montaigne: Tagebuch einer Reise nach Italien (Diogenes)


"Ich schäme mich immer, wenn ich unsere Landsleute sehe, die in ihre eigene Sitte so verliebt sind, daß sie über alles stutzig werden, was damit nicht übereinkommt. Sie scheinen außer ihrem Element zu sein, wen sie über die Grenzen ihres Dörfleins hinausgehen. Wo sie hinreisen, halten sie sich an ihre Gebräuche und Weisen, und verabscheuen die fremden", spottet Michel de Montaigne. Zweihundert Jahre vor Goethe reiste er quer durch Europa, und was er beobachtete, hielt er mit spitzer Feder in seinem Reisetagebuch fest. Das ist erstaunlich amüsant zu lesen, was ebenso am offenen Sinn des Reisenden wie an seinem exzellenten literarischen Stil liegen mag.

Prädikat: *****

Samstag, 14. November 2009

Donna Leon: Lasset die Kinder zu mir kommen (Diogenes)


Dottor Pedrolli ist überglücklich: Sein Adoptivsohn Alfredo, 18 Monate jung, hat ihn zum ersten Mal papà genannt. Wenige Stunden später gerät seine Welt aus den Fugen. Mit Maschinenpistolen bewaffnete Carabinieri stürmen seine Wohnung, und reißen den Kleinen zu nachtschlafener Zeit aus dem Bettchen. Der renommierte Kinderarzt wird dabei niedergeschlagen.
Commissario Brunetti versucht, herauszufinden, aus welchem Grunde dieser brutale Einsatz angeordnet worden ist. Der dottore freilich kann ihm dabei überraschend wenig behilflich sein. Denn er hat seine Sprache verloren.
Donna Leon gibt mit diesem Buch tiefen Einblick in die Psyche von Spießbürgern. Da ist der Apotheker, der ein bisschen Gott spielen und die Sünder bestrafen möchte. Es finden sich Mütter, die sich erbgesunde Enkelkinder wünschen. Und "ehrbare" Frauen, die mit Hingabe ihren Nachbarn hinterherspitzeln. Familienmensch Brunetti wird durch diesen Fall auf eine harte Probe gestellt.

Prädikat: *****

Steven Galloway: Der Cellist von Sarajevo (Luchterhand)


Bosnien, 90er Jahre: Tag und Nacht wird Sarajevo beschossen. Eine Mörsergranate tötet 22 Menschen, die vor einer Bäckerei um Brot anstehen. Ein Musiker - vor dem Krieg war er der Erste Cellist des Philharmonischen Orchesters der Stadt - hat dies beobachtet. Er zieht sich seinen Frack an, setzt sich mit seinem Cello in die Trümmer, und spielt das Adagio von Albinoni. 22 Tage lang, stets pünktlich zum Zeitpunkt des Granateneinschlages.
Um diese wahre Begebenheit herum erzählt Gallowy vom Leben in der belagerten Stadt. Er gibt den Opfern ein Gesicht und eine Stimme, ihre Geschichte zu berichten. Ein ergreifendes Buch, das zeigt, wie es Menschen gelingt, selbst unter unvorstellbaren Bedingungen Würde und Menschlichkeit zu bewahren.

Prädikat: ****

Marie Cristen: Turm der Lügen (Knaur)


Frankreich, im 14. Jahrhundert. Die junge Séverine, aufgewachsen auf einem Landgut, erzogen in der Küche und im Stall, wird nach Paris gebracht. Im Gefolge von Jeanne, der Ehefrau von Prinz Philippe, soll sie Manieren lernen. Die drei Schwiegertöchter des Königs sind Séverines Schwestern. Doch davon hat sie keine Ahnung. Auch den Hofintrigen kann sie zunächst nicht folgen - bis die drei Frauen der Prinzen schließlich wegen Ehebruchs angeklagt und verbannt werden.
Séverine hilft Jeanne über diese harte Zeit, Dabei kommt ihr zugute, was sie als junges Mädchen auf dem Lande gelernt hat. In dieser Bewährungssituation errät sie das Geheimnis ihrer Herkunft, sie findet Mutter und Schwester - und einen Mann, den sie liebt.
Eine nette Geschichte vor historischer Kulisse - wer so etwas mag, der wird daran Vergnügen finden.

Prädikat: **

Lucy Hepburn: Alle meine Schuhe (Heyne)


Amy Marsh hat ihrem Freund Justin erzählt, dass sie mit ihren Freundinnen in einen Pub geht. Doch in Wahrheit sie ist mit Sergei im Royal Opera House gewesen. Und dort wurde sie gesehen.
Justin ist wütend. Er wirft Amy raus - und verkauft all ihre Schuhe per Ebay. Das lohnt sich, denn Amy hat einen Schuhtick. Dabei verschont er allerdings auch ein Paar Ballettschuhe nicht - ihr einziges Andenken an die verstorbene Mutter, Primaballerina Hannah Powell. Amy ist zutiefst verletzt, und macht sich auf die Suche nach ihren Schuhen. Dabei lernt sie viele Leute kennen, und erfährt sie eine Menge über sich selbst - und findet sogar ihren Vater.
Unterhaltsam, sehr gut zu lesen - ein Buch nicht nur für Leute mit Sammeltrieb...

Prädikat: ****

Ursula Niehaus: Die Seidenweberin (Knaur)


Waisenkind Fygen wird zu ihrer Tante Mettel geschickt, damit sie das Seidenweber-Handwerk erlernt. Doch die Lehrherrin setzt alles daran, ihren Lehrmädchen das Leben zur Hölle zu machen. Und auch das mittelalterliche Köln erweist sich als ein gefährliches Pflaster - hat nicht ein Kölner Kaufmann ihren Vater erst ruiniert und dann möglicherweise sogar erschlagen? Nach und nach entdeckt Fygen ein Geheimnis, das ihre Familie nicht ohne Grund gut gehütet hatte.
Eine faszinierende Story, die durchaus auf Tatsachen basiert. Niehaus erweist sich als ebenso versierte wie sachkundige Autorin. Sorgsam baut sie ihre Geschichte, auch stilistisch agiert sie geschickt. Das Ergebnis: Mehr als 600 Seiten Lesevergnügen!

Prädikat: ****