Donnerstag, 30. Dezember 2010

Marie Cristen: Der Damenfriede (Knaur)

Die junge Venezianerin Simona Contarini ist auf dem Wege nach Flandern, als sie durch einen Zufall Louise von Savoyen begegnet, der Mutter des Königs von Frankreich. Der Krieg hat das Land ausgezehrt, die Bevölkerung hungert, und wenn nicht bald Frieden wird, dann wird Frankreich untergehen. So jedenfalls sieht Louise das - und beschließt, unter größter Geheimhaltung mit ihrer Freundin aus Kindertagen, Margarete von Österreich, zu verhandeln, die wiederum dem Erzfeind, dem Haus Habsburg, angehört. 
Die Contarini kommt ihr zupass, weil sie das Flandrische beherrscht - und weil sie ihre Meinung sagt, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Außerdem ist sie in der Heilkunst versiert, was es Louise ermöglicht, ihre Schwäche zu verbergen. Und so wird Simona zur ständigen Begleiterin der Königinmutter - bis der Damenfrieden von Cambrai ausgehandelt ist, und Louise stirbt. Ein grandioser Roman über eine wenig bekannte Episode der europäischen Geschichte.

Andreas Föhr: Schafkopf (Knaur)

An einem Oktobersontag steigt der Kleinkriminelle Stanislaus Kummeder mit einem Bierfass auf den Riederstein. Dort wird ihm der Kopf weggeschossen. Was er mit dem Bier dort oben wollte, und warum sich jemand mit einem Präzisionsgewehr auf die Lauer legte, um Kummeder zu beseitigen, das versuchen Kommissar Wallner und Polizeiobermeister Kreuthner herauszufinden.
Sie kommen einer langen Geschichte auf die Spur, die in einer Neumondnacht vor zwei Jahren bei einer Partie Schafkopf ihren Anfang nahm. Darin verschwindet eine junge Frau spurlos, nachdem sie vor ihrem schlagkräftigen Lebensgefährten Reißaus nehmen wollte. Es stellt sich heraus, dass auch der Wirt, in dessen Kneipe das Kartenspiel einst stattfand, seine Freundin regelmäßig verprügelt - und im Kofferraum eines chronisch erfolglosen Anwalts finden sich 200.000 Euro. Lange rätseln sie darüber, wie die einzelnen Details, auf die sie bei ihren Ermittlungen stoßen, zusammenpassen könnten. In einem furiosen Finale findet sich schließlich die Lösung. Eine tolle Geschichte aus Oberbayern, mit viel Lokalkolorit.

Georges Simenon: Der Mann aus London (Diogenes)

"Im Augenblick denkt man, es seien Stunden wie andere auch, und man merkt erst hinterher, dass etwas Außergewöhn- liches daran war." Seit beinahe 30 Jahren sitzt Maloin, der Rangiermeister des Hafenbahnhofs von Dieppe, in seinem Glaskasten, und schaut herunter auf das Geschehen. Eines Tages beobachtet er einen Mord; der Koffer, den der Mörder an sich bringen will, fällt ins Hafenbecken. Maloin fischt ihn heraus - und von diesem Moment an ist nichts mehr, wie es einmal war. 
Ein unverhofftes Ereignis bringt einen Mann aus dem Gleich- gewicht - das ist eine typische Simenon-Geschichte, und sie ist zudem derart brillant erzählt, das man nur staunen kann.

Beatrix Mannel: Die Hexengabe (Diana)

Als ihr Vater stirbt, soll Rosas Mutter, die Zapfin, Haus und Werkstatt verkaufen. Die Nürnberger Ratsherren verlangen, dass die Witwe die Stadt schnellstens verlassen soll. Denn sie hat keinen mänlichen Erben an ihrer Seite, dafür aber zwei kränkliche Töchter - und Rosa, die Älteste, begabt, schön und vorlaut, und den Bürgern unheimlich. Denn das Mädchen hat an ihrer linken Hand einen sechsten Finger, den die abergläubischen Nachbarn für einen Hexenfinger halten. Da ist allerdings auch noch eine Tochter aus erster Ehe, erinnert sich Rosa - und diese hat einen Sohn.
Um ihre Schwestern zu retten, ringt sie dem Rat eine Galgenfrist ab: Wenn es ihr gelingt, innerhalb von zwei Jahren ihren Neffen aus Ostindien zu holen, darf die Familie ihre Spielkartendruckerei in Nürnberg weiterführen. Doch schon bei der Überquerung der Alpen muss Rosa feststellen, dass die Reise nicht nur beschwerlich, sondern auch gefährlich ist. Denn am Wegesrand warten bereits gedungene Mörder auf das Mädchen. 
Wer aber ist ihr Auftraggeber? Erst nach ihrer Rückkehr erfährt Rosa, wer wirklich ihr Vater ist - und wer ein Interesse daran hat, sie aus dem Wege zu räumen. Eine abenteuerliche Geschichte aus dem 17. Jahrhundert, die mitunter an ein Märchen erinnert, aber spannend erzählt wird.

Axel Hacke: Der kleine Erziehungsberater (Knaur)

Axel Hacke, langjähriger Kolumnist bei der Süddeutschen Zeitung, lebt mit seinen drei Kindern und Frau am Stadtrand von München. Irgendwann kam er auf die Idee, die Erfahrungen, die er im Zusammenleben mit Anne, sechs, Max, fünf, und Marie, zwei Jahre alt, erworben hat, für das Magazin der Süddeutschen aufzuschreiben. So entstand Der kleine Erziehungsberater - ein wertvolles, weil realistisches Büch- lein für angehende Eltern. 
Es ist dünn, weil Eltern ohnehin wenig Zeit haben zum Lesen. Es kommt rasch auf den Punkt - siehe oben. Und es ist pointiert geschrieben, damit es durchdringt durch den Nebel, der die über- müdeten Elternhirne umwölkt. Kurze Warnung: Dies ist KEIN Buch für Pädagogen. Denn darin steht nicht, wie das Leben mit Kindern sein sollte. Aber Eltern werden nicken, wenn ihre Kraft dazu noch aus- reicht: Jawohl, jedes Wort ist wahr - genau so ist es.

Georges Simenon: Tropenkoller (Diogenes)

Ein "Non-Maigret" aus der Feder von Georges Simenon? Gespannt beginnt man zu lesen, und findet sich alsbald in eine undurchsichtige Geschichte hineingezogen, die um 1930 in Gabun, Westafrika, spielt. Ein junger Franzose trifft in Libreville ein, um Auslandserfahrung zu sammeln und die Welt kennenzulernen. 
Er muss allerdings schnell feststellen, dass die Uhren in Afrika in einem ganz anderen Tempo laufen, als er das von Daheim gewohnt ist. Niemand hier wartet auf diesen Joseph Timar, niemand braucht ihn - außer Adèle, der Frau des Hotelbesitzers, die sich zu ihm legt, und ihn dann abweist, um ihn später wieder zu verführen, bis er schier den Kopf verliert vor Lust und Eifersucht.
Dann stirbt Adèles Mann, und in derselben Nacht wird ein schwarzer Boy erschossen. Timar ist überzeugt davon, dass die Wirtin in die Angelegenheit verwickelt ist. Doch er will nun endlich etwas tun, in Afrika - und Adèle bietet ihm die Möglichkeit dazu. Denn sie hat eine Geschäftsidee und das nötige Geld, er aber hat durch Zufall die Beziehungen, die erforderlich sind, und beteiligt sich nur zu gern an dem Projekt, denn er sieht darin die Chance, nunmehr tätig zu werden, und zudem mit Adèle zusammen zu sein. Doch nach kurzer Zeit muss Timar erkennen, dass auch er nur eine Marionette in einem abgefeimten Spiel ist.
Eine hervorragend geschriebene Geschichte, flirrend wie die warme Luft am Äquator, die von Andeutungen lebt, und ebenso düster ist wie unterhaltsam. Brillant!

Marie Cristen: Das flandrische Siegel (Knaur)

Brügge, im 15. Jahrhundert: Christina Contarini, Tochter eines reichen Kaufmannes, soll verheiratet werden. Ihr Bruder Lucas, der eigentlich Maler werden will, soll nach dem Willen des Vaters zukünftig seine Tage im Kontor verbringen. Beide flüchten - Christina gemeinsam mit ihren jüdischen Geliebten und ihrer Freundin aus Kindertagen. Von Antwerpen aus wollen die Jugendlichen per Schiff nach Venedig reisen, der Stadt ihrer Träume. 
Doch dann landen sie in London, wo sie rasch in Bedrängnis geraten. Um all dem rasch wieder zu entkommen, stürmt Christina gemeinsam mit ihrem Daniel auf ein Schiff, dessen Mannschaft von der Cholera dahingerafft wird. Die Behörden lassen es 40 Tage lang in Quarantäne legen - und danach ist nichts mehr so, wie es einmal war. 
Ein spannender Roman, und das vorletzte der Flandern-Epen von Marie Cristen. Auf die Fortsetzung darf man sehr gespant sein.

Mittwoch, 22. Dezember 2010

Jens J. Kramer: Der zerrissene Schleier (Knaur)

15. Jahrhundert, Osmanisches Reich. Der Sultan lässt Christen ihre Söhne weg- nehmen, um sie als Muslime aufzuziehen und zu Elitesoldaten auszubilden. Als die Häscher in das Dorf kommen, in dem die kleine Thamar zu Hause ist, gibt der Vater jedoch seine Tochter weg. 
Mit sehr viel Glück gelingt es "Gjörgi", zu verheimlichen, dass "er" in Wahrheit ein Mädchen ist. Doch mit dem Übertritt zum Islam ist die Beschneidung verbunden. Und damit ist die Maskerade gescheitert - allerdings ist Thamar zu diesem Zeitpunkt bereits durch ihre Furchtlosigkeit und Schnelligkeit einem der Generäle des Sultans aufgefallen. Und so wird das wilde Mädchen mit den eisblauen Augen zu einem Kämpfer ausgebildet. 
Dieses Buch erscheint als eine Mischung aus Historienroman und Haremsphantasie. Es liest sich flüssig, auch wenn die Erzähler- perspektive ständig wechselt, und der Autor die einzelnen Erzähl- stränge eher bedächtig zusammenführt. Wenig geübte Leser dürfte das verwirren.

Alena Schröder: Wir sind bedient (Diana)

Warum Dienstleistung überwiegend Frauensache ist? Wer dieses Buch gelesen hat, der kann verstehen, warum Männer lieber Häuser bauen oder Autos reparieren, als Kranke und Alte zu pflegen, Kinder zu unterrichten oder Hotelzimmer aufzuräumen. Wer jemals Zweifel daran hatte, dass es zwischen den Geschlechtern deutliche Unterschiede gibt, der wird, nachdem er diese Stories gelesen hat, geheilt sein.
Denn was Frauen auf sich nehmen, um sich ein - obendrein meistens ausgesprochen dürftiges - Einkommen zu sichern, das würde sich wohl kaum ein Mann gefallen lassen. Was diese Verkäuferinnen, Flug- und Zugbegleiterinnen, Friseurinnen, Messehostessen Ballerinas und Pharmareferentinnen erzählen, das desillusioniert gewaltig - und macht deutlich, wie wenig Dienstleistung hierzulande geachtet wird. Dass diese Hebammen, Kassiererinnen, und Politessen ihre stressigen, schlecht bezahlten Jobs dennoch gern machen, auch das wird der Leser dieser gut geschriebenen Porträts staunend feststellen.

Kari Köster-Lösche: Die sizilianische Heilerin (Knaur)

Sizilien 1282: Die Soldaten des französischen Königs plündern und morden - und die Einwohner wehren sich dagegen, wo immer das möglich ist. Santino Cataliotti, ein Wundheiler, der sich auf die Wiederherstellung beschädigter Nasen spezialisiert hat, bekommt reichlich zu tun - und seine Tochter Costanza ebenfalls, die ihm assistiert. Als er sich weigert, auch die verletzten Franzosen zu behandeln, übernimmt sie diese Aufgabe - sehr zum Ärger ihrer Mutter, die den Platz ihrer Tochter eher in Haus und Küche sieht.
Auch der Vater reagiert verärgert, und versucht, die aufsässige Tochter zu verheiraten. Doch dieser Plan scheitert, weil sich kein Sizilianer findet, der Costanza heiraten will, die so ganz anders aussieht als ihre Landsleute, und obendrein wenige jener Tugenden mitbringt, die ihre Zeitgenossen bei einer Frau erwarten. 
Als dann auch noch die Inquisition vorspricht, weil jemand angezeigt hat, die Santini würden als Chirurgus praktizieren, ohne das vorgeschriebene Medizinstudium absolviert zu haben, ist das Maß voll. Costanza fürchtet um ihr Leben - und flieht zu den Franzosen, wo sie als Wundärztin tätig wird, und versucht, das Geheimnis ihrer Herkunft zu ergründen. Ein historischer Roman voll verblüffender Wendungen - nicht durchweg perfekt erzählt, aber spannend bis zum Schluss.

Dienstag, 21. Dezember 2010

Kevin Wignall: Die letzte Wahrheit (Heyne)

Conrad Hirst arbeitet als Auftragskiller - für einen deutschen Verbrecher, wie er meint. Doch als er aus dem Geschäft aussteigen möchte, stellt er fest, dass die Verhältnisse längst nicht so klar sind, wie er gedacht hat. 
Schnell bemerkt Hirst, dass er nur eine Marionette in einem Spiel ist, in dem Geheimdienste die Fäden ziehen. Eine Geschichte voller verblüffender Wendungen, ein Thriller mit einem faszinierenden Helden - und stilistisch ist dieses Buch auch exzellent.

Iny Lorentz: Die Ketzerbraut (Knaur)

Die schöne Münchner Patriziertochter Genoveva soll heiraten - doch der Brautzug, der sie zu ihrem Bräutigam, einem ebenso reichen Kaufmannssohn, nach Innsbruck bringen soll, wird überfallen. Ihr Zwillings- bruder kommt dabei ums Leben. Dass die Räuber Veva lediglich in ein Verlies gesperrt haben, um sie dann gegen Lösegeld freizugeben, glaubt dem Mädchen in München keiner. 
Um sie doch noch schnell unter die Haube zu bringen, verheiratet sie ihr Vater mit dem Sohn des Kaufherrn Rickinger, einem berüchigten Weiberhelden und Pfaffenhasser. Die beiden werden getraut und nach Augsburg abgeschoben, wo sich Jakob Fugger des jungen Paars annimmt. Doch während Ernst lernt, wie man klug Kaufmannsgeschäfte führt, sinnt ein weiterer Kaufmannssohn in München auf Rache. 
Benedikt Haselegner nämlich hat den Überfall auf Veva eingefädelt, um sie sozusagen als gefallenes Mädchen heiraten und sich Vermögen aneignen zu können, das ihm fehlt. Um an Geld zu kommen, scheut er kein Verbrechen - und bald sieht er eine Chance, den jungen Rickinger aus dem Weg zu schaffen. Sein Spießgeselle aber, der Anführer der Oberländer Bande, hat eigene Pläne. 
Ein spannend erzählter, handwerklich solide gemachter historischer Roman aus der Zeit der Reformation - trotz der schnittmusterartigen Story liest man das Buch gern und mit Interesse, was nicht zuletzt an einer Vielzahl sorgfältig recherchierter und gut ausgearbeiteter Details liegt. Die beiden Münchner Autoren wissen nur zu gut, wie man Leser begeistert.

Katarina Fischer: Liebe geht anders (Heyne)

Daphne hat Pech in der Liebe. Und sie hat eine Strategie, wie sie damit umgeht: Immer, wenn sich wieder ein Lover aus dem Staub gemacht hat, schleppt sie einen Eimer Farbe nach Hause, und renoviert. Das kommt so oft vor, dass der türkische Gemü- sehändler ihr bereits Heiratskandidaten vorstellt - wie wäre es beispielsweise mit dem netten Kollegen vom 99-Cent-Shop?
Daphne leidet. Aber ihre beste Freundin hat schon einen Plan; diesmal wird alles ganz anders. Oder? Wer Frauenliteratur amüsant findet, der wird dieses Buch der jungen Hamburger Autorin Katarina Fischer mögen. Garantiert!

Chris Tvedt: Tote Freunde (Knaur)

Rechtsanwalt Mikael Brenne gerät in Bedrängnis: Seine Freundin verlässt ihn, und dann wird auch noch ein Freund und Kollege tot aufgefunden. Wenig später stirbt unter mysteriösen Umständen obendrein dessen Frau. Doch da ist Brenne schon tief in Depressionen versunken. Und die nächsten Katastrophen lassen nicht lange auf sich warten. 
Von Panikattacken gebeutelt, versucht Brenne, einen Mandanten zu verteidigen, der seinen Bruder umgebracht haben soll. Wer der Täter war, das ist eigentlich offensichtlich - wenn man die Morde im Zusammenhang sieht. Doch daran denkt zunächst niemand. Bis sich herausstellt, dass der tote Junge missbraucht worden ist. Und sehr viel Geld bei sich hatte.
Lakonisch erzählt Chris Tvedt vom unspektakulären Dasein seines Helden Brenne mit seinen alltäglichen Sorgen und Ängsten - und von einem spektakulären Kriminalfall, der letzten Endes sehr einfach zu erklären ist. Eine spannende Geschichte aus Norwegen.