Freitag, 21. Dezember 2012

Andreas Franz: Teufelsleib (Knaur)

Ein Krimi um Kommissar Peter Brandt, mit einem etwas unappetitlichen Thema. Denn in Offenbach wird eine Hausfrau tot aufgefunden. Sie hält einen Olivenzweig in der Hand, und in ihrem Mund finden sich eine Olive und eine Taubenfeder. Bald schon liegen weitere Leichen im Kühlhaus, die ebenso gekennzeichnet worden sind - und die Polizei vermutet, dass der Täter auch für zwei weitere Morde verantwortlich ist, die noch nicht aufgeklärt wurden. 
Warum Andreas Franz als Kultautor gehan- delt wird, das ist mir ein Rätsel. Dieses Buch ist genauso öde und unliterarisch wie die Vorgänger. Ich muss gestehen, dass ich mich selten beim Lesen derart gelangweilt habe. Schade. 

Prädikat: -

Maria Ernestam: Der Kater, meine Nachbarn und ich (btb)

Ein Paar mit Katze zieht aus der Stadt aufs Land. Das Haus ist bereits saniert. Und auf den wundervoll verwilderten Garten freut sich Sara schon ganz besonders. Die Nachbarn Agneta und Lars scheinen nette Leute zu sein, ein freundliches Ehepaar mit akkurat gestutztem Rasen. Doch schon bald bekommt das Idyll Risse. Denn ein domi- nanter Kater hat den Garten zu seinem Revier erklärt, das er gegen den Eindringling aus der Stadt ganz entschieden verteidigt. 
Auch Agneta und Lars benehmen sich seltsam; sie scheinen nicht recht zu dem Haus zu passen, in dem sie wohnen. Dann wird Sara von Einbrechern niedergeschlagen, die obendrein das Haus furchtbar verwüsten. Kurz darauf stellt sich ein älteres Ehepaar vor - die Nachbarn, die die letzten Jahre in Brüssel waren und nicht in Südschweden. 
Maria Ernestam deutet mehr an, als dass sie erzählt. Wer Vergnügen daran hat, Bücher gründlich zu lesen und auf winzige Details zu achten, der wird diese Geschichte schätzen. 

Prädikat: ***

Kurt Andersen: Neuland (Heyne)

Der Brite Benjamin Knowles, aus gutem Hause stammend, aber durch das Erlebnis der französischen Revolution verunsichert, reist nach Amerika. New York berauscht und begeistert ihn. Und schon bald hat er dort auch Freunde gefunden: Timothy Skaggs, der Geschichten für die Zeitung schreibt und seine Plattenkamera quer durch die Stadt schleppt, Duff Lucking, der mit Hingabe Brände löscht (und gern auch selbst welche legt, wenn er meint, dass dies der Gerech- tigkeit dienlich ist) und dessen Schwester Polly, die gern Schauspielerin wäre, aber derzeit noch gutes Geld als Prostituierte verdient.
Polly fasziniert Benjamin - und als sie von einer Theaterreise nicht zurückkehrt, sondern mit ihrer Freundin in den Westen geht, um dort zu siedeln, brechen die Männer auf, um sie zu suchen. Kurt Andersen lässt seine Helden den ganzen Kontinent durchqueren, bis sie schließlich in Kalifornien landen, angelockt vom Gold, das dort zu finden ist. Der Autor zeigt, wie verschieden die Motive jener Menschen waren, die einst von Europa aus aufgebrochen sind, um in Amerika ihren Traum von einer besseren Welt zu verwirklichen. Andersen zeichnet das Bild eines Kontinents im Aufbruch - aber letzten Endes entkommt niemand seiner Vergangenheit. 

Prädikat: ***

Mittwoch, 19. Dezember 2012

Sam Eastland: Roter Zar (Knaur)

Was wäre, wenn? Mit dieser Frage spielt Sam Eastland, alias Paul Watson. Der amerikanische Schriftsteller nimmt also an, dass die Zarenfamilie nicht auf Befehl Stalins erschossen worden ist - und dass niemand aus dem Kreise der führenden Bolschewiki weiß, was in Swerdlowsk tatsächlich geschehen ist. 
Der einstige Privatermittler des Zaren wird reaktiviert, denn nur ihm traut man zu, es herauszufinden. Dass Pekkala noch lebt, ist schon für sich ein Wunder - der legendäre Sonderermittler, der im ganzen Reich gefürchtet wurde, weil er unfehlbar und absolut unbestechlich war, hat die Jahre nach der Revolution als Zwangsarbeiter in der Taiga verbracht. Nun also soll das "Smaragdauge" für Stalin ermitteln - den "roten Zaren". 
Dass er den Fall lösen wird, das erwartet der Leser. Wie Eastland die Lösung gestaltet hat, das verblüfft. Aber das Pekkala anschließend in Stalins Dienste getreten sein soll, so etwas kann sich nur ein Ameri- kaner ausdenken. Schade! 

Prädikat:  **

Freitag, 14. Dezember 2012

Lisa Higgins: In Liebe, Rachel (Knaur)

Sarah, Jo, Kate und Rachel waren das harmonischste Kleeblatt, das man sich vorstellen kann. Doch dann stirbt Rachel - und jede ihrer Freundinnen erhält einen letzten Brief von ihr. Dieser enthält eine Aufgabe. Sie zeigt einerseits, wie gut Rachel die drei kannte. Andererseits verändert diese Aufgabe das Leben ihrer Freundinnen unwiderbringlich. Und es dauert, bis Sarah, Kate und Jo bemerken, dass Rachel ihr Dasein vom Kopf wieder auf die Füße gestellt hat. Denn zunächst sieht es ganz nach dem Gegenteil aus. Lisa Higgins ist hier deutlich mehr gelungen als ein reiner Frauen-Unterhaltungsroman. Sie bringt ihre Leserinnen dazu, nachzudenken, was sie in ihrem Leben ändern sollten - ein erfreu- licher Begleiteffekt dieser Lektüre. 

Prädikat: ***

Mechthild Borrmann: Der Geiger (Droemer)

Moskau, 1948: Ilja Grenko, ein begnadeter Geiger, ist von einer Konzertreise nach Westeuropa zurück und hat nun ein Konzert am Tschaikowski-Konservatorium gespielt. Umtost vom Applaus verlässt er die Bühne - und wird noch in der Garderobe verhaftet. Er stirbt im Gulag, seine Frau Galina wird verbannt. Viele Jahre später kann sie mit Kindern und Kindeskindern nach Deutschland ausreisen. 
Enkel Sascha setzt alles daran, die Geige seines Großvaters wiederzuerlangen. Es ist eine Stradivari, die seit 1862 im Familienbesitz war. Damals hatte sie der Zar seinem Lieblingsgeiger Stanislaw Sergejewitsch Grenko geschenkt. Seit der Verhaftung Ilja Grenkos aber war das Instrument verschwunden. 
Danach zu fragen, das ist gefährlich. Das hatte Galina gelernt, und das hatte Saschas Eltern, seinen Onkel und seine Schwester bereits das Leben gekostet. Doch Sascha gibt nicht auf. Er reist nach Russland, wo er den Enkel eines Kriminellen aufsucht, dem sein Großvater seinerzeit in Workuta das Leben gerettet hat. Domorow weiß die Antwort auf einige Fragen - und den Rest erfährt er von dem Geheimpolizisten, der seinerzeit seinen Großvater aus dem Wege schaffen ließ. Mechthild Borrmann erzählt eine unglaubliche Geschichte. Doch wer die Verhältnisse kennt, der weiß, dass dieser spannend erzählte Roman wohl der Realität ziemlich nahe kommen dürfte. Nicht wundern, lesen! 

Prädikat: ****

Maria Ernestam: Das verborgene Haus (btb)

Viola und Axel fahren mit ihren Töchtern in ein Ferienhaus am Meer. Axel will seine Mutter besuchen, die dement ist und in einem Heim lebt. Viola begleitet ihn. Dabei lernt sie Lea kennen, die ebenfalls in diesem Heim lebt - und ist von der Frau fasziniert, die viele Jahre als Missionarin in China gelebt hat. Je mehr sie über Lea erfährt, desto stärker stellt die Literatur- dozentin allerdings ihr eigenes Leben infrage; insbesondere die Beziehung zu Rechtsanwalt Axel ist schwierig geworden, denn der war kürzlich schwer krank, und hat das noch nicht ver- kraftet. 
Lässt sich die Liebe wiederbeleben, wenn sie durch Kränkungen und Missverständnisse gelitten hat? Mit dieser Geschichte sucht Maria Ernestam die Antwort auf eine uralte Frage - ihre Helden finden sie schließlich in China. Doch ab das den Leser überzeugt, das muss er selbst entscheiden. 

Prädikat: **

Donnerstag, 13. Dezember 2012

Andreas Föhr: Schwarze Piste (Knaur)

Polizeiobermeister Leonhardt Kreuthner hat eine Mission: Onkel Simon ist tot, und er hat sein Anwesen nebst Schnapsbrennerei an Kreuthner vererbt - unter der Bedingung, dass dieser die Asche des Verblichenen auf dem Wallberg verstreut. Doch die feierliche Zeremonie misslingt; die Asche landet im Gesicht einer jungen Skifahrerin. 
Zur Wiedergutmachung wagt sich Kreuthner gemeinsam mit ihr auf die sogenannte schwarze Piste, die er aber doch nicht so gut kennt. Und auf der Suche nach dem richtigen Weg stolpern sie dann auch noch über eine gefrorene Leiche, die Daniela sofort erkennt: Es ist ihre Schwester, die ganz in der Nähe einen Gnadenhof betreibt. Fast hätte die Polizei an einen Selbstmord geglaubt. Doch bei der Toten findet sich das Foto einer exhumierten Leiche - und kurz darauf auf derselben Bank eine zweite Leiche, mit demselben Foto. Damit wird die Angelegenheit endgültig ein Fall für Kommissar Wallner. Der führt tief in die Geschichte des Linksextre- mismus, was auch den Verfassungsschutz auf den Plan ruft. 
Andreas Föhr hat einmal mehr einen super Krimi geschrieben, der zwar reichlich regionales Flair mitbringt, aber auch Nichtbayern hervorragend unterhalten dürfte. Seine Helden sind erneut Charaktere, und die Handlung schlägt so manche Volte, bis Föhr den Leser in ein verblüffendes Finale führt. Brillant! 

Prädikat: ****

Julias Seidl / Stefan Rosenboom: Anni und Alois - Arm sind wir nicht (Ludwig)

Anni und Alois Sigl leben auf einem Einödhof am Rande eines Dorfes im vorderen Bayeri- schen Wald, seit mehr als 50 Jahren. Und sie leben so wie ihre Vorfahren: Nur in der Küche wird geheizt. Bad und Toilette gibt es in dem Bauernhaus nicht. Der einzige Luxus - Zeitung, Telefon, Fernseher, Strom und Versicherungen - frisst die schmale Rente der beiden alten Leutchen bis auf 50 Euro auf. So ernähren sie sich von dem, was der Garten und die Stallungen hergeben. Selbst den Tabak für Alois baut Anni selbst an. 
Journalistin Julia Seidl hat für das Bayerische Fernsehen drei Filme über dieses Paar gedreht, und sie hat das Paar dafür mehrfach auf dem Hof besucht. Auch die Fotos von Stefan Rosenboom vermitteln ein Bild davon, wie es sich unter solchen Umständen lebt. Bei aller Begeisterung für das ländliche Idyll, aber das ist nichts für Faule, zumal die Winter auf dem Hof lang sind - und schneereich. "Das einfache Leben macht viel Arbeit", bringt es Anni auf den Punkt: "Da fliegen einem nicht die gebratenen Tauben ins Maul." 

Prädikat: ***

Mittwoch, 12. Dezember 2012

Michael Gruber: Das Totenfeld (dtv)

Ein Mann stürzt aus einem Hotelfenster und wird von einem Zaun aufgespießt - kein schöner Anblick, meint Polizist Tito Morales, der dort gerade in sein Auto steigen will. Im Hotelzimmer findet sich eine Frau, die mit dem Tod des sudanesischen Erdölhändlers nichts zu tun haben will - und behauptet, soeben mit Katharina von Siena gesprochen zu haben. 
Doch die Geschichte, die Michael Gruber hier erzählt, wird noch viel vertrackter. Denn das FBI will nicht, dass die Polizei ermittelt. Und der Bericht, den diese Frau, die sich Emmylou Dideroff nennt, dann schrittweise gibt, klingt so abenteuerlich, dass ihr niemand glauben möchte. Aus gutem Grund, wie der Leser bald herausfindet. Denn die unkonventionelle Ordensfrau sagt nicht die ganze Wahrheit. Ein packender Thriller um Öl, Macht und Geld - und eiskalte Politiker, denen jedes Mittel recht ist, wenn es ihren Interessen dient. 

Prädikat: ***

Johanna Marie Jakob: Das Geheimnis der Äbtissin (Knaur)

Um seinen Vater zu empfangen, ist Ludwig, der älteste Sohn des Grafen von Lare, die Treppe des Wachturms hinuntergeeilt. Dabei stürzt er, und erleidet einen komplizierten Kochenbruch. Fasziniert beobachtet Judith, seine Schwester, wie Silas, der Leibarzt des Kaisers, das verletzte Bein behandelt. Dieses Erlebnis verändert ihr Leben: Aus der jungen Adligen wird eine Heilkundige, die schließlich sogar Kaiser Friedrich ins Feld begleitet. 
Doch der Herrscher hat ein Geheimnis: Er kann keine Kinder zeugen. Den Beischlaf erledigt daher, für Gott und das Reich, Bischof Konrad. Judith ist nicht die einzige, die weiß, dass die Söhne, die Kaiserin Beatrix geboren hat, in Wahrheit Bastarde sind - und dieses Wissen bringt sie noch Jahre später in Gefahr, als sie längst einem Kloster vorsteht. Spannend und detailreich erzählt Johanna Marie Jakob diese Geschichte aus dem 12. Jahrhundert - und der Leser folgt ihr gern durch diesen historischen Roman.

Prädikat: ***

Christoph Peters: Wir in Kahlenbeck (Luchterhand)

Dies ist der Bericht vom Leben und Lernen im Collegium Gregorianum Kahlenbeck, einem katholischen Jungen-Internat irgendwo am Niederrhein. Dieser Roman verströmt einen Geruch nach Weihrauch - und nach Kohlsuppe. Denn in Kahlenbeck scheint die Zeit stillzustehen. Da gibt es Teenager, die mit ihrer Tante auf Wallfahrt gehen, und Patres, die hingebungsvoll die Sünden ihrer Zöglinge erforschen - vor allem auch die fleischlichen. Dieses Internat ist so konservativ, dass der Leser zunächst denkt, dieser Roman spiele in der Nachkriegszeit. Doch an der Musik, die die Schüler dieser Eliteschule hören, stellt man dann fest, dass es um die 80er Jahre geht. Peters zeichnet das beklemmende Bild einer Kirche, die aus der Welt gefallen ist. Spiritualität wird hier durch Rituale und Verbote ersetzt; die Jugendlichen haben nicht in erster Linie das verheißene Himmelreich, sondern die Qualen der Hölle vor Augen. Gruslig! 

Prädikat: ***

Dienstag, 11. Dezember 2012

Kinky Friedman: Das Weihnachtsschwein (Knaur)

Die klassische Weihnachtsgeschichte endet meistens traurig - man denke nur an das Mädchen mit den Schwefel- hölzchen. Diese hier berichtet vom kleinen Benjamin. Er wächst bei Tante Joan und Onkel Floyd auf - so jeden- falls sagen die Leute, denn in Wahrheit weiß niemand, wer seine Eltern sind. 
König Jonjo herrscht über das Land, in dem Benjamin, Joan und Floyd leben - und der König enthüllt in jedem Jahr zum Abschluss der Christmette eine traditionelle Krippenszene. Nun hat er ein Problem. Denn Künstler gibt es in seinem Königreich nicht mehr. Benjamin spricht zwar nicht, aber er kann ausgezeichnet malen. Und so wird der Zehnjährige an den Hof geholt, um binnen Monatsfrist - mehr Zeit ist nicht mehr - ein grandioses Werk zu erschaffen. 
Gelingt es ihm, dann können seine Zieheltern ihre Schulden bezahlen, und verlieren ihren Bauernhof nicht. Während Benjamin an dem Bild malt, freundet er sich mit einem Schweinchen an. Valerie ist unglaublich klug - und Benjamin stellt erstaunt fest, dass er sich mit ihr unterhalten kann. In der Scheune entsteht ein Bild, das in der Tat ein Meisterwerk ist. Doch dann erfährt der Junge, dass die Boten, die das Bild zum Hof bringen sollen, auch seine Freundin mitnehmen werden - als Braten. Und so kommt es, dass später die Engel, mitten aus einem Schneesturm und tief aus dem Wald, zwei kleine gefrorene Leichen vor Gott bringen. 
Es ist kein tröstliches Ende, das Kinky Friedman seiner Geschichte gegeben hat. Sie ist brillant erzählt, aber Kindern sollte man sie - trotz der wundervollen Illustrationen von Daniel Schreiber - wohl besser nicht vorlesen. Denn hier kommt keine gute Fee, um die Helden zu retten. Der Leser seufzt: Schade. 

Prädikat: *****

Glöckchen, Gift und Gänsebraten (Knaur)

Eine weitere Folge mit Adventskrimis aus dem Hause Knaur. Wie schon im letzten Jahr ("Maria, Mord und Mandelplätzchen") sind auch hier wieder Autoren aus ganz Deutschland vertreten. Sie sind zwar nicht unbedingt alle prominent, doch ihre kurzen Geschichten sind durchweg köstlich - auf den Punkt gebracht, mit Liebe angerichtet und mit fiesen Details sorgsam gewürzt. Fröhliche Weihnachten! und im nächsten Jahr bitte mehr davon. 

Prädikat: ****

Evelyn Sanders: Advent fängt im September an (Knaur)

Was tut die fleißige Hausfrau, wenn das Weihnachtsfest herannaht? Die Antwort gibt dieses Buch mit Geschichten von Evelyn Sanders. Es sind Geschichten, die eigentlich das Familienleben schreibt. Man kann daraus lernen, wie man die kleinen Katastrophen des Alltag mit Humor bewältigt. Oder man amüsiert sich einfach - ich musste beim Lesen oft schmunzeln. 

Prädikat: **

Helene Tursten: Der im Dunkeln wacht (btb)

Auf Göteborger Friedhöfen finden sich, sorgsam in Plastikfolie verpackt, zwei erdrosselte Frauen. Wie sich herausstellt, hatte der Täter zuvor eine weiße Chrysantheme und einen Umschlag mit einer verschlüsselten Botschaft an ihrer Wohnungstür befestigt, in dem sich ein Foto befindet - aufgenommen durch ein Fenster der Wohnung der Toten. Der Paketmörder, das ist Kriminalinspektorin Irene Huss und ihrem Team bald klar, ist ein Stalker. Sehr schnell haben sie einen Verdacht. Doch zunächst können sie dem Mörder nichts nachweisen. Ein Wettlauf beginnt, bei dem ein Verrückter auch Polizistinnen näher kommt, als ihnen lieb ist. Helene Tursten hat einen Krimi geschrieben, der noch grusliger endet, als er begonnen hat. Starke Bilder! Dieses Buch ruft förmlich danach, ein Fernsehkrimi zu werden. 

Prädikat: ***

Heide Meyer: Mutter Corsage (Knaur)

"Meine wichtigste Mission ist aber erfüllt: Büstenhalter, ob nun mit Schaumstoff- kissen, mit Strassverzierungen oder Silikonpads, ob durchsichtig und elastisch, ob formend oder nicht, sie sind nicht totzukriegen." Das ist die Bilanz, die Heide Meyer, Miederwarenverkäuferin aus Berlin ("Lady M"), nach vielen Jahren im Geschäft zieht. 
Sie hat, unterstützt durch die Journalistin Silke Kettelhake, ihre Autobiographie zu Papier gebracht. Wer aber tatsächlich "Enthüllungen" erwartet, der hat das falsche Buch in der Hand. Meyer berichtet viel Interessantes aus der Nachkriegszeit. Und sie erzählt mit Humor von den nicht immer glücklichen Entscheidungen ihres Lebens, von den Dessous, die sie verkauft hat, und vom Wandel der Zeiten. Wer sich nicht daran stört, dass Mode wohl immer auch mit einer großen Portion Eitelkeit verbunden ist, der wird sich über Meyers Nähkästchen-Geplauder amüsieren. 

Prädikat: **

Dienstag, 27. November 2012

Annie Proulx: Schiffsmeldungen (btb)

Dieses kleine Buch kommt zunächst daher wie eine Aneinanderreihung von Katastro- phen. Da ist sein Held Quoyle, vom Pech verfolgt, der versucht, seine Brötchen als Reporter zu verdienen, und immer wieder scheitert. Auch bei den Frauen hat er kein Glück. Doch dann lässt er sich von seiner Tante überreden, mit ihr und seinen Töchtern nach Neufundland zurückzukehren. In der Heimat seiner Vorfahren wartet nicht nur ein Haus, das mit Seilen am Felsen festgezurrt ist. Quoyle findet einen Job beim Lokalblatt, eine Menge Nachbarn, die ebenso seltsam sind wie er, und alte Geschichten, die manches erklären, was er bislang unerklärlich fand. Er schreibt die Schiffsmeldungen - und lernt, dass ein Mann ein Boot braucht, dass es auch Frauen gibt, die ein Mann mit Gewinn küsst, und dass auf dieser Insel, in Nebel und Kälte, so manches Wunder geschieht. 
Kein Wunder ist es, dass Annie Proulx für dieses Buch mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden ist. Es ist wie ein Kaleidoskop - jedes- mal, wenn man es aufschlägt, entdeckt man hinter den scheinbar schlichten Sätzen eine neue Facette, eine neue Geschichte. Und eine grandiose Autorin, die mit ihren Worten eine Welt erschaffen kann. Das ist große Literatur, ganz ohne Zweifel. 

Prädikat: *****

Freitag, 16. November 2012

Daniel Schönpflug: Luise von Preußen (dtv)

Bereits zu Lebzeiten wurde Königin Luise von Preußen (1776 bis 1810) sehr verehrt. Goethe bezeichnete sie als "Lichtgestalt", Schlegel pries sie als "Königin der Herzen". Schinkel und Rauch errichteten ihr Denk- mäler. Und bis zum heutigen Tage werden Bücher über die junge Frau geschrieben, die als sechstes Kind des Prinzen Karl Ludwig von Mecklenburg-Strelitz und seiner Ehefrau Friederike Caroline von Hessen-Darmstadt zur Welt kam. 
Sie steht für Natürlichkeit und Bürgerlich- keit, für ein neues Ideal in Sachen Ehe und Familie, für Liebe und Treue - und für eine behutsame Erneuerung der Institution Monar- chie. Historiker Daniel Schönpflug erkundet in seiner auch stilistisch sehr ansprechenden Biographie, inwiefern dieses Bild der Realität standhält. Er zeigt auf, wie sich mit den historischen Gegebenheiten auch die Inszenierung von Macht und Herrschaft veränderte. Das ist durchaus spannend zu lesen.

Prädikat: ****

Donnerstag, 15. November 2012

Martin Walker: Schatten an der Wand (Diogenes)

Der Schotte Martin Walker hat seit vielen Jahren seine zweite Heimat im Périgord. Dieser Landschaft und ihren ziemlich eigensinnigen Bewohnern hat er in Gestalt von Bruno, Chef de police, in großartiger Weise ein literarisches Denkmal gesetzt. 
Schatten an der Wand ist ein früher Roman des Autors um eine prähistorische Höhlenzeichnung. Ich hätte dieses Buch hier gern vorgestellt. Und wenn dies nicht ein schnödes Blog, sondern das Hintertupfinger Tagblatt wäre, könnten Sie, lieber Leser, an dieser Stelle auch ganz sicher eine Rezension des Buches finden. 
Lesen kann ja bekanntlich (fast) jeder - und kostenlose Bücher nimmt so mancher gern. Da hat man sogar Verständnis dafür, wenn mittlerweile etliche Verlage nur noch ungern Rezensionsbücher an Blogger verschicken. Aber muss das denn so grundsätzlich und ohne Blick auf den Einzelfall entschieden werden? 
Die Autorin, die diese Zeilen schreibt, bedauert, dass offenbar nun auch der Diogenes Verlag nur noch "richtige" Medien beliefert, die die langen Texte schreiben, mit scharfem germanistischem Seziermesser und auf einem Niveau, an das die kurzen Textchen in diesem Blog selbstredend niemals heranreichen. 
Das wollen sie ja auch nicht. Diese frechen, unehelichen kleinen Geschwister literaturwissenschaftlicher Fachaufsätze bringen Buchinhalte auf den Punkt, und kommentieren obendrein das künstlerische Handwerk der Autoren - in einer Form, die dem Internet angemessen ist. Die Rezensionen in diesem Buchblog sind maßgeschneidert für Sie, liebe Leser - und ich freue mich immer wieder über Ihr Interesse für diese durchaus aufwendige Arbeit, Ihr Lob und Ihre begeisterten Anmerkungen. 
Und vielleicht wird auch der Diogenes Verlag irgendwann entdecken, dass ein Aufsatz in einer Zeitung, selbst wenn er noch so überragend und tiefschürfend ist, einen Tag später mit dem Medium im Altpapier landet. Die Texte im Buchblog aber können Sie, wie ein Literatur- lexikon, jederzeit auch in Zukunft per Mausklick erreichen. Ich verspreche Ihnen, dass noch viele hinzukommen werden - und dass Sie hier auch in Zukunft nicht nur die Hochkultur finden werden. 

Elmar Heer: Partner auf Leben und Tod (Knaur)

Elmar Heer berichtet über seine Arbeit bei der Polizei. Dabei gerät er schnell ins Schwärmen - was der Leser nachvollziehen kann, denn Heer hat wundervolle Kollegen. Sie haben vier Beine, Fell, Herz und Schnauze, und sie sind überaus zuver- lässige Gefährten. 
Heer, seit über 20 Jahren Beamter der Diensthundestaffel Mittelfranken, hat eine Menge zu erzählen. Er hat mit seinen Polizeihunden etliche Ganoven gestellt und Drogen aufgespürt. Derzeit arbeitet er mit Hündin Carina, die speziell für die Suche nach Sprengstoffen aus- gebildet ist. Shirley Michaela Seul, eine renommierte Autorin und Ghostwriterin, hat den Hundeführer beim Schreiben unterstützt. Das Ergebnis liest sich spannend, und ist interessanter als so mancher Band mit Politiker-Memoiren. 

Prädikat: **

Mittwoch, 14. November 2012

Hakan Nesser: Der Kommissar und das Schweigen (btb)

Kommissar Van Veeteren hat die Nase voll. Um nicht 14 Tage Familienurlaub mit seiner Exfrau, Kindern und Enkelkindern ertragen zu müssen, bucht er kurz entschlossen Ferien auf Kreta. Doch vor seiner Abreise bekommt er überraschend noch eine schwierige Aufgabe: Ein Kollege aus einem benachbarten Polizeirevier bittet ihn um Hilfe. Er hat seltsame Anrufe erhalten, die darauf hinweisen, dass aus einem Ferien- lager ein junges Mädchen verschwunden ist. Die Leute dort allerdings streiten alles ab. Wenig später wird dann eine Leiche gefunden. Die Umstände sind seltsam, und die Ermittlungen haben nicht wirklich ein Ergebnis - bis ein Zufall der Polizei eine interessante Spur bringt. Ein brillanter Krimi von Hakan Nesser, der zu Recht als einer der besten  Schrift- steller Schwedens gilt. 

Prädikat: ****

Sarah Quigley: Der Dirigent (Aufbau)

Aus dem belagerten Leningrad werden die meisten Künstler evakuiert. So wird die gesamte Philharmonie aus der einge- schlossenen Stadt gebracht. Das Rundfunkorchester aber, das von Karl Eliasberg geleitet wird, bleibt. Und Dmitri Schostakowitsch, der berühmte Komponist, weigert sich, die Stadt zu verlassen. Er arbeitet an einem wichtigen Werk, wenn er nicht gerade Gräben ausheben muss oder zur Brandwache eingeteilt ist. Sarah Quigley erzählt von der Entstehung der Leningrader Sinfonie - und davon, wie sie von halb verhungerten und furchtbar frierenden Musikern, den wenigen Überlebenden eines grauenhaften Winters, für die verbliebenen Bewohner der Stadt und ihre Verteidiger uraufgeführt wird. Akzeptiert man grundsätzlich das Genre Romanbiographie, dann wird man dieses Buch sehr gelungen finden. 

Prädikat: ****

Montag, 12. November 2012

Nicole Steyer: Die Hexe von Nassau (Knaur)

Idstein, im Jahre 1676: Graf Johannes lässt sich nur zu gern einreden, dass der Teufel im Herzogtum Nassau sein Unwesen treibt. Nun wird man des Leibhaftigen kaum habhaft werden - doch die Hexen, die sich in seinem Gefolge herumtreiben, will der Graf schon fassen. Allerdings sollten sie nicht mehr im gebärfähigen Alter sein, denn nach dem Dreißigjährigen Krieg liegen noch immer etliche Dörfer wüst, und da ist jeder Untertan willkommen. Henker Busch freilich widmet sich der Hexenjagd mit Hingabe. Zum einen verdient er am Foltern und Töten. Zum anderen, so will es Autorin Nicole Speyer, ergötzt er sich an den Qualen der Frauen. Ein junges Mädchen hat es ihm besonders angetan, so dass er sich über die Vorschriften hinwegsetzt, um sie in seine Gewalt zu bringen. Ein grob gestrickter Roman mit zahlreichen historischen Laufmaschen. So steht hier in jedem Bauernhaus vor dem Ofen ein Sofa. Und die Autorin kann sich nicht entscheiden, ob der Liebste ihrer Heldin Katharina nun Priester oder Pfarrer ist. Autsch! 

Prädikat: *

Samstag, 10. November 2012

Georges Simenon: Der Mörder (Diogenes)

Schutter war reich - ein Rechtsanwalt, der es nicht nötig hatte, Mandanten anzu- nehmen. Seine Yacht war groß und schnell, und sein Haus war prächtig. "Vor allem aber war er der einzige Mann in Sneek, der sich einen schlechten Ruf leisten konnte." So bringt es Simenon aus den Punkt, und die Geschichte ins Rollen. Denn Nikolaus de Schutter hat ein Verhältnis mit Alice Kupe- rus. Und Ihr Ehemann, Doktor Kuperus, weiß davon. 
Doch was zuviel ist, das ist zuviel - und eines Tages ist das Pärchen verschwunden. Die Tat hat niemand beobachtet. Aber bald schon ahnt die ganze Stadt, wer der Täter war. Denn der Doktor verändert sich. Akribisch schildert Simenon, wie Kuperus allmählich seine gutbürgerliche Existenz abstreift - und im Wahn endet. 

Prädikat: ****

Donnerstag, 8. November 2012

Lars Rambe: Solo für den Tod (dtv)

Ein kleines Städtchen in Schweden bereitet sich darauf vor, erstmals Gastgeber eines internationalen Jazzfestivals zu sein. Doch dann flieht ein Schwerverbrecher aus dem Gefängnis, ganz in der Nähe. Eine Bank wird ausgeraubt; dabei gibt es Tote. Um das Chaos perfekt zu machen, wird obendrein ein berühmter Jazzmusiker angeschossen - und bald ist nicht nur die Polizei, sondern auch die Redaktion der örtlichen Zeitung auf der Jagd nach den Tätern. Lars Rambe macht es auch dem Leser nicht leicht, das Rätsel zu lösen und herauszufinden, was all die Verbrechen mitein- ander zu tun haben. 

Prädikat: ***

Wolfgang Kaes: Bitter Lemon (btb)

Zoran Jerkov, nicht gerade mit blüten- weißem Lebenslauf, wird aus dem Gefängnis entlassen, wo er zwölf lange Jahre unschuldig eingesessen hat - und droht vor laufenden Kameras allen, die ihn hinter Gitter gebracht haben, mit Rache. Dann sterben Menschen, die einst mit seinem Fall zu tun hatten. Die Kölner Polizei ruft ihren Ex-Kollegen David Manthey zu Hilfe. Denn der war in seiner Jugend mit Jerkov befreundet. Nun soll er ihn aufspüren - doch er zweifelt daran, dass Zoran der Mörder ist. Die Spuren führen auf den Balkan, und die Täter kennen keine Skrupel. Wolfgang Kaes hat einen Kriminalroman geschrieben, der immer wieder überraschende Wendungen nimmt - bis hin zum verblüffenden Finale. 

Prädikat: ****

Donnerstag, 13. September 2012

Urmila Chaudhary: Sklavenkind (Knaur)

Das Leben in Nepal ist für viele Bewohner dieses Landes hart. Dennoch pflegen die Menschen dort ein Kastensystem, wie wir es auch aus Indien und Pakistan kennen - so hat fast jede Bevölkerungsgruppe noch eine andere, auf die sie hinabschauen kann. Und nur die Jungen sind in dieser Kultur von Bedeutung. Das führt dazu, dass zahlreiche Mädchen ab einem Alter von sechs Jahren als Arbeitskräfte verkauft werden. Sie leben im Haushalt ihrer "Arbeitgeber", wo sie in ir- gendeinem Winkel schlafen, mehr oder minder ernährt werden - und kräftig zupacken müssen. 
Eine Schule besuchen sie nicht, aber sie kommen zumindest aus ihrem Dorf heraus, und lernen, wie man einen Haushalt führt. Der "Kaufpreis" ist aus westlicher Sicht eine lächerliche Summe, Lohn wird nicht gezahlt - und wenn die Mädchen, die als "Kamalari" in die Fremde geschickt werden, Pech haben, dann gibt es obendrein noch Schläge oder Zudringlichkeiten. Doch eines ist auch klar: Die Eltern sind nicht in der Lage, die Mädchen zu ernähren und auszubilden. 
In diesem Buch berichtet Urmila Chaudhary von ihren Jahren als Hausdienerin, und von ihrem Kampf gegen diese brutale Tradition. Aufgeschrieben hat die Geschichte allerdings eine deutsche Journalistin; das macht es schwierig, zu unterscheiden, welche Schilderungen von der Nepalesin stammen, und welche Sachverhalte aus europäischer Sicht notiert und bewertet wurden. Zweifelsfrei trifft es zu, dass Bildung den Mädchen aus dieser misslichen Lage helfen würde. Aber von ihren Familien haben die Kinder doch auch nichts zu erwarten - welche Alternative also steht hier zur Debatte? 

Prädikat: **

Dienstag, 11. September 2012

Varg Gyllander: Tote reden nicht (btb)

Auf einem etwas heruntergekommenen Kreuzfahrtschiff, das eigentlich nur noch Leute durch die Gegend fährt, damit die zollfrei einkaufen können, wird eine Leiche gefunden. Der Tote liegt im Wasser, und zwar in einem künstlich angelegten Re- genwald-Biotop - doch er wurde erschossen, wie die Stockholmer Kriminalpolizei bald feststellt. 
Außerdem finden Ulf Holtz und seine Kollegin Pia Levin heraus, dass der Mann unter falschem Namen an Bord gegangen und dass er regelmäßig mit diesem Schiff unterwegs war. Doch dann bringt Autor Varg Gyllander eine tote Familie und diverse Vergewal- tigungen ins Spiel. Waffenschmuggel wäre wohl nicht spektakulär genug gewesen, und irgendwie hängt ja bekanntlich alles zusammen. Natürlich hat dieser Fall eine Lösung - aber besonders glaubhaft wirkt sie nicht. Schade. 

Prädikat: **

Samstag, 8. September 2012

Erika Riemann: Die Schleife an Stalins Bart (dtv)

Vierzehn Jahre alt war Erika Riemann, als der Zweite Weltkrieg zu Ende war. Und dann machte sie gleich zwei Fehler, die Aufmerksamkeit und Misstrauen der Besatzungsmacht weckten: Sie weigerte sich, einer russischen Majorin die Haare zu waschen, weil diese Läuse hatte. Und dem Stalin-Porträt, dass nun anstatt des Bildes von Adolf Hitler in ihrem Klassenzimmer hing, malte sie mit Lippenstift eine Schleife um den Schnauzbart. Das genügte, um Erika vor ein russisches Gericht zu bringen. Das Urteil: Zehn Jahre Sibirien. Doch das Mädchen hatte Glück, so makaber das klingen mag - nach acht Jahren Haft, die sie in Deutschland abgesessen hat, wurde sie entlassen.
Ihre Autobiographie, die sie viele Jahre später zu Papier bringt, gibt eindrucksvoll Zeugnis davon, mit welchen Methoden in den Anfangs- jahren die DDR regiert wurde. Dieses Buch ist ein bedeutendes Doku- ment einer Diktatur, die in ihrer Willkür für die Menschen schrecklich war, die ihr unterworfen waren. Riemann ist es gelungen, 1954 über die Grenze zu fliehen. Doch die Erlebnisse aus den Gefängnisjahren wurde sie nicht mehr los. Viele Jahre hat sie geschwiegen - umso wichtiger ist dieses Buch, das insbesondere auch an den Schulen gelesen und diskutiert werden sollte. 

Prädikat: ****

Mittwoch, 5. September 2012

Helen Simonson: Mrs. Alis unpassende Leidenschaft (Droemer)

Früher war alles besser, meint Ernest Pettigrew, Major a.D. Und nach dem Tod seiner Frau will er eigentlich nur noch seine Ruhe, ein gutes Buch und eine ordentliche Tasse Tee. Bald stellt er erstaunt fest, dass dafür in seinem Umfeld nur ein Mensch Verständnis hat: Jasmina Ali, die Besitzerin eines kleinen Lebensmittelladens. 
Major Pettigrew ist so britisch, wie sich ein deutscher Leser das nur wünschen kann. Ja, er verkörpert das Britische in einem Maße, dass jede Steigerung in die Karika- tur führen muss. Der Leser freut sich auf jeder Seite über seine Lebensweisheit und seinen knacktrockenen Humor. Jasmina hat zwar Verwandtschaft, die aus Pakistan stammt. Doch sie ist in Großbri- tannien aufgewachsen, wo ihr Vater Mathematik lehrte. So ist es kein Wunder, dass sie sich nicht nur als sehr belesen erweist, sondern auch die Welt, in der sie sich nun als Witwe einfügen soll, mit kri- tischem Blick betrachtet.
Denn ihr Neffe Abdul Wahid, sehr religiös erzogen, soll den Laden übernehmen, damit die Familie für ihn eine Braut aus Pakistan kommen lassen kann. Jasmina soll sich um die Kinder von Verwandten kümmern, bei denen sie zukünftig unterkommen wird - gern auch um den Haushalt. Und Roger, der verzogene Sohn von Pettigrew, hätte ebenfalls nur zu gern Zugriff auf das Vermögen seines Vaters. So wird es nicht verwundern, dass schon die vorsichtige Annäherung der beiden Alten für einigen Trubel sorgt. Helen Simonson hat in ihrem ersten Buch eine köstliche Komödie zu Papier gebracht - mit einem furiosen Finale. 

 Prädikat: ****

Freitag, 31. August 2012

Ingrid Noll: Über Bord (Diogenes)

Hildegard, Ellen und Amalia - drei Genera- tionen leben harmonisch unter einem Dach zusammen. Das klingt nach Idyll, doch leider ist die alte Villa, von den Nachbarn auch spöttisch "das Nonnenkloster" genannt, in- zwischen ziemlich baufällig. Den Bewohne- rinnen fehlt das Geld, um das letzte Überbleibsel einstigen Familienvermögens sanieren zu lassen. 
Was also will dieser Gerd Dornfeld, der behauptet, nach dem Tod seiner Mutter ein Tagebuch gefunden zu haben, aus dem hervorgeht, dass er Ellens Halbbruder ist? Ein Gentest beweist, dass er tatsächlich ein Sohn von Hildegards längst verstorbenem Ehemann Rudolf Tunkel ist. Doch er beweist auch, dass Ellen nicht von ihrem vermeintlichen Vater abstammt. Die Verwirrung ist groß. 
Das Chaos lässt sich aber noch steigern. Denn Dornfeld lädt Ellen und ihre Tochter Amalia zu einer Mittelmeer-Kreuzfahrt ein. Und fast hätte Ellen sich in den gut aussehenden Mann verliebt. Doch Ingrid Noll gilt vollkommen zu recht als Grande Dame des deutschen Krimis. Liebe Leser, es sei verraten: Dieser Roman hat ein Happy-End. Aber es sieht ganz anders aus als erwartet. Dieses Buch ist eine Wucht. Unbedingt lesen!

Prädikat: *****


Donnerstag, 30. August 2012

Brenda Stumpf: Bratkartoffeln für Tina Turner (Knaur)

Eine Köchin, die ihre Memoiren schreibt? Da staunt man aber! und der Leser staunt noch mehr, wenn er dann liest, wo Brenda Stumpf einst acht Jahre lang am Herd gestanden hat: In der Zeche in Bochum - und dort hat sie nicht nur das Publikum bekocht, sondern auch jede Menge Musiker. Die Liste ist lang und illuster. Und so erfährt, wer sich dafür interessiert, dass Tina Turner sich Bratkartoffeln mit Spiegelei zubereiten ließ. Man lernt, dass Drogen ungesund sind, dass Partyvolk meist ziemlich bescheuert ist - und dass Koch doch lieber richtig lernen sollte, wer den Beruf ein Leben lang machen will. Die Autorin jedenfalls hat sich mittlerweile dazu durchgerungen, doch lieber ihr Geld mit dem Schreiben von Romanen zu verdienen. Ob das wirklich eine gute Idee war, darüber sollte der Leser dann lieber nicht zu lange nachdenken. 

Prädikat: *

Barbara Beuys: Der Große Kurfürst (dtv)

Geschichte wird zu einer spannenden Angelegenheit, wenn man sie nicht als eine Aneinanderreihung von Daten und Fakten begreift, sondern als Wirkung von Ent- scheidungen, die Führungspersönlichkeiten getroffen oder aber gelegentlich auch vermieden haben. Wie sehr insbesondere auch zögerliches Verhalten mitunter den Lauf der Ereignisse beeinflusst, kann man in diesem Buch erkennen. 
Barbara Beuys beschreibt darin den Lebens- weg eines Herrschers, der eigentlich keine Chance hatte - und sie trotzdem nutzte, um ein Reich zu formen: Friedrich Wilhelm (1620 bis 1688), Kurfürst von Brandenburg, wurde von seinen Zeitgenossen nicht ohne Grund der Große Kurfürst ge- nannt. Denn als er 1640 die Regierung antrat, waren seine Länderei- en vom Krieg verwüstet, in weiten Teilen besetzt, und sämtliche Kassen waren leer. Seine Erben übernahmen ein Land, das in Europa zu einer Großmacht geworden war - mit einer weitgehend funktio- nierenden Verwaltung, einem schlagkräftigen Heer, religiöser Toleranz und deutlich mehr Bürgern sowie einer allmählich wieder aufblühenden Wirtschaft. 
Beuys erläutert, wie der Große Kurfürst dieses Wunder vollbracht hat. In ihrem Buch schildert sie aber nicht nur die Biographie eines Herrschers; sie zeigt auch auf, wie Friedrich Wilhelm in das Netzwerk damaliger Machtstrukturen eingebunden war, und wie diese Abhängigkeiten sein Handeln beeinflussten. So entsteht vor dem Blick des Lesers auch ein Bild Europas, das sich in jenen Jahren rasant veränderte. Und obendrein ist dieses Werk auch sehr gut geschrieben. Unbedingt lesen! 

Prädikat: *****

Sara Gran: Die Stadt der Toten (Droemer)

Sie steht zumeist unter Drogen, hat weder Freunde noch ein Zuhause, und löst Fälle, indem sie das Orakel und ihre Träume mindestens ebenso oft befragt wie ihre Zeugen. Außerdem hat Claire DeWitt, die uns Sara Gran in diesem Debüt als Heldin präsentiert, in jeder Lebenslage das passende Zitat aus Détection parat, dem fiktiven Handbuch eines ebenso fiktiven französischen Stardetektivs. 
Eine wüste Figur für eine Stadt, die nicht nur vom Hurrican verwüstet worden ist. Leider bleibt DeWitt, Gran zufolge "die beste Ermittlerin der Welt", seltsam konturenlos, obwohl wir mehr über ihre Vergangenheit erfahren, als wir eigentlich wissen wollen. Und was mit dem Staatsanwalt geschehen ist, den die Detektivin aufspüren soll, das ahnt der Leser auch schon sehr bald. Statt Spannung gibt's jede Menge Erzählebenen; dieses Buch wäre wohl gerne Literatur geworden, aber handwerklich überzeugt das nicht. Und der Leser staunt: Ein Krimi, der langweilt - das hatten wir lang nicht mehr! 

Prädikat: - 

Katrin Behr / Peter Hartl: Entrissen (Droemer)

Wer in der DDR nicht funktionierte - und dazu reichte es mitunter aus, mehrfach zu spät zur Arbeit zu erscheinen - dem drohte die Höchststrafe: Jederzeit konnte der Staat Familien die Kinder wegnehmen, um sie an linientreue Ehepaare weiterzureichen. Damit verfolgten die Behörden gleich zwei Ziele: Aufsässige Bürger zu disziplinieren und, falls dies im Einzelfall doch nicht gelang, zu- mindest ihre Kinder im Geiste des Arbeiter- und Bauernstaates zu erziehen. 
Wie brutal dies im Einzelfall verfolgt wurde, und welche Folgen das für die Betroffenen hatte, berichtet Katrin Behr in ihrer Autobiographie. Es ist ungemein wichtig, dass es dieses Buch gibt. Denn auch dies ist DDR-Geschichte. Und wer dieses Buch gelesen hat, der wird es garantiert nicht mehr bedauern, dass dieser Staat untergegangen ist: "Alles für das Wohl des Volkes"? Alles Märchen! Der konkrete Bürger war damit jedenfalls nicht gemeint. 

Prädikat: ****

Samstag, 4. August 2012

Detlef Gojowy: Katzenbriefe (Dresdner Verlag)

Dass Katzen literarische Tiere sind, das ist erwiesen und mittlerweile von der Literaturwissenschaft anerkannt. Auch bei Familie Gojowy lebten offenbar zu- mindest zwei Generationen schrift- stellernder Samtpfoten; sie übernahmen immer dann den Briefwechsel, wenn die Zweibeiner dazu keine Zeit hatten.
Das kam öfter vor, denn Hausherr Detlef Gojowy, im Jahre 2008 viel zu früh ver- storben, war Musikredakteur und Experte für Moderne Musik. Als solcher war er auch ein Wanderer zwischen den Welten auf beiden Seiten des Eisernen Vorhanges. Diese Erfahrungen scheinen übrigens auf die Katzen abgefärbt zu haben. Moische, Murr und Fiezi erweisen sich als überaus sensible Beobachter der Zweibeiner. Und politische Köpfe sind sie offenbar auch. Wer sich für deutsch-deutsche Geschichte der Jahre 1979 bis 2000 interessiert, der findet hier eine nicht alltägliche Dokumentation, die weit über das Private hinausreicht - und weil Katzen Stil haben, liest sich das Ganze obendrein sehr erfreulich. 


 Prädikat: ****

Freitag, 3. August 2012

Timo Parvela: Ella auf Klassenfahrt (dtv)

Eigentlich wollte die Klasse, in der die kleine Ella lernt, in den Süden reisen. Doch dann vergisst Pekka, der Klassendussel, seinen Pass im Reisegepäck. Als er das bemerkt, ist sein Koffer aber schon per Gepäckband verschwunden. Und da fährt Pekka einfach auf demselben Gepäckband seinem Koffer hinterher - was auf dem Flughafen einiges Chaos verursacht und letzten Endes bewirkt, dass die zweite Klasse nicht am sonnigen Strand, sondern in Kittilä landet. Das befindet sich in Finnland; genauer gesagt, hoch im Norden in Lappland, und dort liegt sogar noch Schnee. Denn Lehrer und Schüler haben in dem Durcheinander das falsche Flug- zeug bestiegen. 
Zum Glück wohnt der Vater des Lehrers dort. Und so kommt es, dass die Schüler ganz erstaunliche Dinge erleben; so lernen sie beispiels- weise das Skifahren. Und es wäre eine wunderbare Zeit gewesen, wenn sie nicht ständig Angst gehabt hätten, dass sie den Rest ihres Lebens als Zwerge beim Weihnachtsmann verbringen müssen. Eine köstliche Geschichte von Timo Parvela, die zeigt, dass die Kommunikation zwischen großen und kleinen Menschen ihre Tücken hat - aber zumindest hier im Buch sind die Pannen ein Riesenspaß. 


Prädikat: ****

Donnerstag, 2. August 2012

Sebastian Fitzek: Splitter (Droemer)

"Sie haben ein schweres Trauma erlitten und wollen es aus Ihrer Erinnerung lö- schen?" liest Marc Lukas in einer Anzeige. "Die Psychiatrische Privatklinik Bleibtreu sucht Teilnehmer für einen Feldversuch unter medizinischer Aufsicht." Sebastian Fitzek, mittlerweile als Bestseller-Autor etabliert, widmet sich in seinem jüngsten Psychothriller erneut der großen Frage, die im Mittelpunkt all seiner Bücher steht: Wie manipulierbar ist der Mensch? 
Die Antwort will man inzwischen nicht mehr wirklich wissen. Denn subtil geht es nicht zu in diesen Romanen, da werden Menschen brutal gefoltert, und der Leser soll dem Autor durch all die unappetitlichen Details folgen, bis er endlich die Lösung, quasi als Erlösung, erfahren darf. Ekelhaft! 


Prädikat: -

John Ronald Reuel Tolkien: Der kleine Hobbit (dtv)

Alle Hobbits sind klein; auch befindet sich Bilbo Beutlin, der Held dieses grandiosen Romans, durchaus im Erwachsenenalter. Der Leser ist also geneigt, über diese Verniedlichung einer Zeile, die der Autor einfach als "The Hobbit"  zu Papier brachte, den Kopf zu schütteln - und zu hoffen, dass auf die Übersetzung ansonsten mehr Sorg- falt verwendet worden ist. 
John Ronald Reuel Tolkien, Professor für Altenglisch an der Universität Oxford, gehört zu den Begründern der Fantasy-Literatur. Den Helden aus diesem Buch, insbesondere Bilbo Beutlin und dem Zauberer Gandalf, wird der Leser in der Trilogie "Herr der Ringe" wiederbegegnen. Hier trifft er zudem auf Orks, Elben und andere Bewohner magischer Landstriche - und auf den Drachen Smaug. Denn Bilbo Beutlin soll dem Zwergenkönig Thorin Eichenschild dabei helfen, dieses Ungeheuer aus dem Schloss seiner Vorfahren zu verjagen, und ihren Schatz zurückzugewinnen. Dieses Abenteuer be- steht der Hobbit auch; und dabei gewinnt er zudem einen seltsamen Ring, der ihn unsichtbar werden lässt. Aber das ist schon wieder der Beginn einer neuen Geschichte. 


Prädikat: *****

Mittwoch, 1. August 2012

Anne George: Mörderische Aussichten (dtv)

Überraschung! Ray hat geheiratet. Doch seine Mutter Mary Alice kann sich darüber gar nicht freuen. Denn seine Frau Sunshine ist zwar bildhübsch, doch ihre Herkunft erscheint Mary Alice verdächtig. Also schnappt sie sich Schwesterherz Patricia Anne, und besucht die Familie der unwill- kommenen Schwiegertochter. 
Die haust in diversen Wohnwagen - und schon beim Betreten der ersten Behausung stolpert Mary Alice über eine Leiche. Doch keine Sorge, es geht noch viel schlimmer. Anne George zeigt, wie sich ein solcher Plot steigern lässt. Dennoch wird man das dumme Gefühl nicht los, dass dieser Krimi einem Seminar für kreatives Schreiben entsprungen ist. Das mag daran liegen, dass die Figuren, obzwar in den Konturen deftig angelegt, bis zum Schluss seltsam blass bleiben. Mein Fall ist dieses Buch, da bin ich ganz ehrlich, nicht. 


Prädikat: *

Donna Leon: Auf Treu und Glauben (Diogenes)

Es ist Sommer, und wer schlau ist, der macht um Venedig einen großen Bogen. Das plant auch für Commissario Brunetti, der mit seiner Familie verreisen will - nach Südtirol, in die Berge, wo er sich unterm Federbett verkriechen und dicke Bücher lesen will. Doch daraus wird zunächst nichts. Denn Ispettore Vianello hat ein Problem. Seine Tante, Zia Anita, ist soeben dabei, das bescheidene Vermögen der Familie einem Betrüger in den Rachen zu werfen. 
Eigentlich will sich Brunetti damit nach seinem Urlaub beschäftigen. Doch dann wird ein Toter gefunden. Und der Commissario muss nicht nur einen Mord aufklären, er kommt auch einem Korruptionsskandal bei Gericht und einem Hochstapler auf die Schliche, der sich bei einer Laborantin eingenistet hat - und den Leuten mit Hilfe manipulierter Laborwerte Wunderheilungen vorgaukelt. Wie in den Krimis von Donna Leon üblich, hängt all das irgendwie zusammen. Und erneut hat Brunetti am Ende zwar den Fall gelöst, aber einen Täter kann er nicht verhaften. 


Prädikat: ****

Henning Mankell: Der Feind im Schatten (dtv)

Kurt Wallander wird Großvater. Doch bevor er die Familie, die seine Tochter Linda sich ausgesucht hat, richtig kennenlernen kann, verschwindet ihr angehender Schwieger- vater Hakan von Enke spurlos. Er war einst Korvettenkapitän und ist längst in Pension. Seine Frau bittet Wallander um Hilfe. Dann verschwindet auch sie. Die Polizei steht vor einem Rätsel, und es ist nicht wirklich gelöst, als die Leiche Louises gefunden wird. 
Wallander hat Urlaub und damit Zeit, sich um die Geheimnisse der Schwiegerfamilie zu kümmern - es gibt da so einige, wie er bald herausfindet. Doch zugleich stellt er fest, dass ihn sein Gedächtnis im Stich lässt. Mit diesem zehnten Fall verabschiedet Henning Mankell Kommissar Wallander - in die Demenz, was ganz sicher viele Krimi-Fans bedauern werden. 


Prädikat: ***

Bielefeld & Hartlieb: Bis zur Neige (Diogenes)

Eigentlich wollte Anna Habel, Chef- inspektorin der Wiener Mordkommission, ein ruhiges Wochenende in ihrem Landhaus verbringen. Doch dann gibt es in ganz Salchenberg nur ein Thema: Edelwinzer Freddy Bachmüller wurde tot in seinem Weinkeller aufgefunden. 
Erst ist es nur ein Gefühl, doch bald hat Habel Gewissheit - ein Unglücksfall war das nicht. Und in Bachmüllers Nachlass finden sich seltsame Rechnungen, Adressat: Ein Berliner Promi-Wirt. Als wenig später dieser wichtige Kunde des Winzers erschossen aufgefunden wird, haben auch die deutschen Kollegen ein Rätsel zu lösen. Doch der Zufall hilft der Kripo dabei. Denn Kommissar Thomas Bernhardt pflegt nicht nur eine enge Arbeitsbeziehung nach Wien. Er hatte zudem einst in seinen Jugendjahren mit dem Opfer gemeinsam studiert - und erinnert sich daran, dass es da doch so eine Terrorismusgeschichte gegeben hat. Ein neuer Fall für Berlin und Wien, bei dem mit dem Autorenduo Bielefeld & Hartlieb allerdings etwas die Fabulierlust durchgeht. 


Prädikat: **


Katja Behrens: Der kleine Mausche aus Dessau (dtv)

Moses Mendelssohn wandert von Dessau nach Berlin. Eine solche Reise wäre noch heute ein Abenteuer für einen Jungen, der gerade einmal 14 Jahre alt ist und kein Geld hat. Für einen Juden aber, der aus seiner kleinen Gemeinde zum ersten Mal einen Schritt in die weite Welt unternimmt, in der er sich überhaupt nicht auskennt, war sie 1743 lebensgefährlich. Wie diese Reise tatsächlich verlaufen ist, darüber gibt es keine Berichte. Katja Behrens erzählt in diesem Buch, was Mendelssohn erlebt haben könnte. Eine außergewöhnliche Lektion im Fach Geschichte, nicht nur für Kinder - und obendrein so gut erzählt, dass man die knapp 200 Seiten am liebsten ohne Unterbrechung durchlesen würde.


Prädikat: *****

Freitag, 13. Juli 2012

Gabi Köpp: Warum war ich bloß ein Mädchen? (Knaur)

Am 26. Januar 1945 flieht Gabi Köpp, da- mals 15 Jahre alt, zusammen mit ihrer Schwester und weiteren Verwandten vor der heranrückenden Sowjetarmee. Einen Tag später befreiten die russischen Truppen Auschwitz. 
Wie die Soldaten dann mit den deutschen Flüchtlingen umgingen, beschreibt dieses schmale Büchlein, das sich auf 14 schlimme Tage konzentriert - die Autorin hat viele Jahre gebraucht, bis sie diese Erinnerungen wieder hervorholen konnte. Denn die russischen Truppen haben nicht nur geplündert und willkürlich um sich geschossen, sie haben auch Mädchen und vorzugsweise junge Frauen vergewaltigt. Die kleine Gabi, von ihrer Familie getrennt und daher ganz ohne Schutz, musste erleben, wie die anderen Flüchtlingsfrauen sie bereitwillig den Russen zur Verfügung stellten, um selbst ver- schont zu bleiben. 
Noch schlimmer als dieses schäbige Verhalten aber war die Tatsache, dass ihre Verwandten diese Erlebnisse nicht erfahren wollten. Selbst ihre eigene Mutter, die sie 15 Monate später in Hamburg wiederfand, wollte nichts davon hören. Dieses Buch ist ein mutiges und wichtiges Buch, weil es gegen ein Tabu anrennt. Es bleibt zu hoffen, dass auch andere Flüchtlinge ihre Erinnerungen aufschreiben. Denn dies ist ein Kapitel deutscher Geschichte, das bisher leider weitgehend unge- schrieben geblieben ist. 


Prädikat: ****

Sonntag, 8. Juli 2012

Susa Bobke: Auch ein Mann bleibt manchmal liegen (Knaur)

Was kann der Mensch für sein Auto tun? Nicht mehr viel, meint Susa Bobke, berühmtester "Gelber Engel" Deutschlands. Denn die Technik ist so kompliziert geworden, dass oftmals im Pannenfall nur noch Abschleppen in die Werkstatt hilft. Trotzdem fallen ihr dann von der Batterie bis zur Bereifung noch allerlei Dinge ein, die ein Fahrer eigentlich selbst in Schuss halten kann. Und natürlich erzählt sie nebenbei von ihren Einsätzen im Dienste des ADAC - und ihr sagenhafter Humor lässt uns auch über weniger nette Begegnungen mit Autos und ihren Menschen schmunzeln. Diese Berichte haben fast schon literarische Qualität, und deshalb landet dieses Buch auch ausnahmsweise nicht im Sachbuch-Blog.


Prädikat: ***

Andrew Kaufman: Alle meine Freunde sind Superhelden (Luchterhand)

Tom ist ein ganz normaler Mensch. Das wird für ihn zum Problem, denn all seine Freunde sind Superhelden. Da gibt es beispielsweise den Schweifer, der jeden Weg findet, aber nie an seinem Ziel verweilen kann, die Froschküsserin, die Verlierer in Sieger verwandelt (und dann feststellt, dass Sieger sie nicht interessieren), den Couchsurfer, der ohne Job und ohne Wohnsitz durchs Leben geht, indem er sich bei seinen Freunden einnistet, oder die Batterie, die für ihre Gefühlsausbrüche berühmt und berüchigt ist. Und da gibt es die Perfektionistin, die Tom liebt, und ihren Ex Hypno, der aus Rache auf der Hochzeit dafür gesorgt hat, dass Tom für die Perfektionistin unsichtbar geworden ist. Jetzt braucht Tom dringend die rettende Idee, die den Zauber vertreibt. Andrew Kaufman hat ein modernes Märchen geschrieben; sehr zum Schmunzeln - aber das Lachen bleibt dem Leser im Halse stecken. 


Prädikat: ***

Jürg Amann: Der Kommandant (dtv)

"Angesichts der Wirklichkeit ist alles Er- finden obszön", meinte Jürg Amann. Er bekam die Aufzeichnungen des Rudolf Höß in die Hände, Erinnerungen, die der einstige Kommandant des Lagers Auschwitz nach seiner Verhaftung durch die britische Militärpolizei niedergeschrieben hat. Aus diesem Dokument hat Amann ein Mono- drama hergestellt, das, so der Autor, nahezu wortwörtlich auf Höß' Text basiert. Es ist die Lebensbeichte eines Mannes, der eigentlich Priester hatte werden wollen, sich dann aber doch für den Beruf des Soldaten entschieden hat - und den Gehorsam letztendlich weit über sein Gewissen stellt. Dieser Text ist grausig und faszinierend zugleich, weil er berichtet, wie es möglich ist, dass ein braver Familienvater tagsüber Menschen umbringen lässt - und nach Feierabend liebevoll über die Köpfe seiner Kinder streicht. 


Prädikat: ****

Samstag, 7. Juli 2012

Petra van Laak: 1 Frau 4 Kinder 0 Euro (fast) (Droemer)

Aus der Jugendstilvilla am See in eine ver- gammelte Mini-Wohnung, abgestürzt aus dem beschaulichen Dasein als Hausfrau und Mutter - Petra van Laak ist das passiert, als ihr Ehemann seine Firmen und damit auch seine Familie in die Pleite manövriert hat. Mit ihren Kindern, neun, sieben, fünf und drei Jahre alt, fand sie sich nach der Zwangsversteigerung ihres bisherigen Hauses ohne einen Pfennig auf der Straße wieder, ohne Auto, ohne Bücher und Möbel und all die anderen Annehmlichkeiten einer gutbürgerlichen Existenz. Ihr Neustart begann, so erzählt sie, mit vier Kindern, vier Koffern und vier Matratzen. Aber zumindest um eine Verbraucherinsolvenz scheint sie herumgekommen zu sein. Sie hat zudem tolle Kinder, die Veränderungen akzeptiert haben und phantastisch zueinander halten. 
Dass sie über ihre Erfahrungen mit den einstigen Nachbarinnen, Mitmüttern und Schwestern im Glauben einer katholischen Pfarrei heute berichten und teilweise auch herzhaft lästern kann, das freut den Leser. Dennoch kam auch Frau van Laak um Erlebnisse nicht herum, wie sie nicht ausbleiben, wenn einen Gläubiger bedrängen, wenn zwielichte Gestalten herbeischwirren, die darauf getrimmt sind, solche Notlagen auszunutzen, und wenn Vermieter und Arbeitgeber abwinken. 
Die Autorin hat schließlich aus der Not eine Tugend und sich selbst- ständig gemacht. Mit Erfolg. Sogar ein Studium an einer renommier- ten Business-School hat sie mittlerweile absolviert. "Wie ich es trotzdem geschafft habe", lautet der Untertitel dieses seltsamen Buches, und der Bericht liest sich sehr motivierend. Doch was tun, wenn jemand abrutscht, der sein Geld nicht im Luftreich der Geistes- wissenschaften verdienen kann? Was macht eine Köchin, eine Verkäuferin oder eine Sekretärin in einer ähnlichen Situation? Sie meldet sich arbeitssuchend, sie geht aufs Amt - und dabei wird es wohl für etliche Jahre bleiben.

Prädikat: **