Freitag, 31. August 2012

Ingrid Noll: Über Bord (Diogenes)

Hildegard, Ellen und Amalia - drei Genera- tionen leben harmonisch unter einem Dach zusammen. Das klingt nach Idyll, doch leider ist die alte Villa, von den Nachbarn auch spöttisch "das Nonnenkloster" genannt, in- zwischen ziemlich baufällig. Den Bewohne- rinnen fehlt das Geld, um das letzte Überbleibsel einstigen Familienvermögens sanieren zu lassen. 
Was also will dieser Gerd Dornfeld, der behauptet, nach dem Tod seiner Mutter ein Tagebuch gefunden zu haben, aus dem hervorgeht, dass er Ellens Halbbruder ist? Ein Gentest beweist, dass er tatsächlich ein Sohn von Hildegards längst verstorbenem Ehemann Rudolf Tunkel ist. Doch er beweist auch, dass Ellen nicht von ihrem vermeintlichen Vater abstammt. Die Verwirrung ist groß. 
Das Chaos lässt sich aber noch steigern. Denn Dornfeld lädt Ellen und ihre Tochter Amalia zu einer Mittelmeer-Kreuzfahrt ein. Und fast hätte Ellen sich in den gut aussehenden Mann verliebt. Doch Ingrid Noll gilt vollkommen zu recht als Grande Dame des deutschen Krimis. Liebe Leser, es sei verraten: Dieser Roman hat ein Happy-End. Aber es sieht ganz anders aus als erwartet. Dieses Buch ist eine Wucht. Unbedingt lesen!

Prädikat: *****


Donnerstag, 30. August 2012

Brenda Stumpf: Bratkartoffeln für Tina Turner (Knaur)

Eine Köchin, die ihre Memoiren schreibt? Da staunt man aber! und der Leser staunt noch mehr, wenn er dann liest, wo Brenda Stumpf einst acht Jahre lang am Herd gestanden hat: In der Zeche in Bochum - und dort hat sie nicht nur das Publikum bekocht, sondern auch jede Menge Musiker. Die Liste ist lang und illuster. Und so erfährt, wer sich dafür interessiert, dass Tina Turner sich Bratkartoffeln mit Spiegelei zubereiten ließ. Man lernt, dass Drogen ungesund sind, dass Partyvolk meist ziemlich bescheuert ist - und dass Koch doch lieber richtig lernen sollte, wer den Beruf ein Leben lang machen will. Die Autorin jedenfalls hat sich mittlerweile dazu durchgerungen, doch lieber ihr Geld mit dem Schreiben von Romanen zu verdienen. Ob das wirklich eine gute Idee war, darüber sollte der Leser dann lieber nicht zu lange nachdenken. 

Prädikat: *

Barbara Beuys: Der Große Kurfürst (dtv)

Geschichte wird zu einer spannenden Angelegenheit, wenn man sie nicht als eine Aneinanderreihung von Daten und Fakten begreift, sondern als Wirkung von Ent- scheidungen, die Führungspersönlichkeiten getroffen oder aber gelegentlich auch vermieden haben. Wie sehr insbesondere auch zögerliches Verhalten mitunter den Lauf der Ereignisse beeinflusst, kann man in diesem Buch erkennen. 
Barbara Beuys beschreibt darin den Lebens- weg eines Herrschers, der eigentlich keine Chance hatte - und sie trotzdem nutzte, um ein Reich zu formen: Friedrich Wilhelm (1620 bis 1688), Kurfürst von Brandenburg, wurde von seinen Zeitgenossen nicht ohne Grund der Große Kurfürst ge- nannt. Denn als er 1640 die Regierung antrat, waren seine Länderei- en vom Krieg verwüstet, in weiten Teilen besetzt, und sämtliche Kassen waren leer. Seine Erben übernahmen ein Land, das in Europa zu einer Großmacht geworden war - mit einer weitgehend funktio- nierenden Verwaltung, einem schlagkräftigen Heer, religiöser Toleranz und deutlich mehr Bürgern sowie einer allmählich wieder aufblühenden Wirtschaft. 
Beuys erläutert, wie der Große Kurfürst dieses Wunder vollbracht hat. In ihrem Buch schildert sie aber nicht nur die Biographie eines Herrschers; sie zeigt auch auf, wie Friedrich Wilhelm in das Netzwerk damaliger Machtstrukturen eingebunden war, und wie diese Abhängigkeiten sein Handeln beeinflussten. So entsteht vor dem Blick des Lesers auch ein Bild Europas, das sich in jenen Jahren rasant veränderte. Und obendrein ist dieses Werk auch sehr gut geschrieben. Unbedingt lesen! 

Prädikat: *****

Sara Gran: Die Stadt der Toten (Droemer)

Sie steht zumeist unter Drogen, hat weder Freunde noch ein Zuhause, und löst Fälle, indem sie das Orakel und ihre Träume mindestens ebenso oft befragt wie ihre Zeugen. Außerdem hat Claire DeWitt, die uns Sara Gran in diesem Debüt als Heldin präsentiert, in jeder Lebenslage das passende Zitat aus Détection parat, dem fiktiven Handbuch eines ebenso fiktiven französischen Stardetektivs. 
Eine wüste Figur für eine Stadt, die nicht nur vom Hurrican verwüstet worden ist. Leider bleibt DeWitt, Gran zufolge "die beste Ermittlerin der Welt", seltsam konturenlos, obwohl wir mehr über ihre Vergangenheit erfahren, als wir eigentlich wissen wollen. Und was mit dem Staatsanwalt geschehen ist, den die Detektivin aufspüren soll, das ahnt der Leser auch schon sehr bald. Statt Spannung gibt's jede Menge Erzählebenen; dieses Buch wäre wohl gerne Literatur geworden, aber handwerklich überzeugt das nicht. Und der Leser staunt: Ein Krimi, der langweilt - das hatten wir lang nicht mehr! 

Prädikat: - 

Katrin Behr / Peter Hartl: Entrissen (Droemer)

Wer in der DDR nicht funktionierte - und dazu reichte es mitunter aus, mehrfach zu spät zur Arbeit zu erscheinen - dem drohte die Höchststrafe: Jederzeit konnte der Staat Familien die Kinder wegnehmen, um sie an linientreue Ehepaare weiterzureichen. Damit verfolgten die Behörden gleich zwei Ziele: Aufsässige Bürger zu disziplinieren und, falls dies im Einzelfall doch nicht gelang, zu- mindest ihre Kinder im Geiste des Arbeiter- und Bauernstaates zu erziehen. 
Wie brutal dies im Einzelfall verfolgt wurde, und welche Folgen das für die Betroffenen hatte, berichtet Katrin Behr in ihrer Autobiographie. Es ist ungemein wichtig, dass es dieses Buch gibt. Denn auch dies ist DDR-Geschichte. Und wer dieses Buch gelesen hat, der wird es garantiert nicht mehr bedauern, dass dieser Staat untergegangen ist: "Alles für das Wohl des Volkes"? Alles Märchen! Der konkrete Bürger war damit jedenfalls nicht gemeint. 

Prädikat: ****

Samstag, 4. August 2012

Detlef Gojowy: Katzenbriefe (Dresdner Verlag)

Dass Katzen literarische Tiere sind, das ist erwiesen und mittlerweile von der Literaturwissenschaft anerkannt. Auch bei Familie Gojowy lebten offenbar zu- mindest zwei Generationen schrift- stellernder Samtpfoten; sie übernahmen immer dann den Briefwechsel, wenn die Zweibeiner dazu keine Zeit hatten.
Das kam öfter vor, denn Hausherr Detlef Gojowy, im Jahre 2008 viel zu früh ver- storben, war Musikredakteur und Experte für Moderne Musik. Als solcher war er auch ein Wanderer zwischen den Welten auf beiden Seiten des Eisernen Vorhanges. Diese Erfahrungen scheinen übrigens auf die Katzen abgefärbt zu haben. Moische, Murr und Fiezi erweisen sich als überaus sensible Beobachter der Zweibeiner. Und politische Köpfe sind sie offenbar auch. Wer sich für deutsch-deutsche Geschichte der Jahre 1979 bis 2000 interessiert, der findet hier eine nicht alltägliche Dokumentation, die weit über das Private hinausreicht - und weil Katzen Stil haben, liest sich das Ganze obendrein sehr erfreulich. 


 Prädikat: ****

Freitag, 3. August 2012

Timo Parvela: Ella auf Klassenfahrt (dtv)

Eigentlich wollte die Klasse, in der die kleine Ella lernt, in den Süden reisen. Doch dann vergisst Pekka, der Klassendussel, seinen Pass im Reisegepäck. Als er das bemerkt, ist sein Koffer aber schon per Gepäckband verschwunden. Und da fährt Pekka einfach auf demselben Gepäckband seinem Koffer hinterher - was auf dem Flughafen einiges Chaos verursacht und letzten Endes bewirkt, dass die zweite Klasse nicht am sonnigen Strand, sondern in Kittilä landet. Das befindet sich in Finnland; genauer gesagt, hoch im Norden in Lappland, und dort liegt sogar noch Schnee. Denn Lehrer und Schüler haben in dem Durcheinander das falsche Flug- zeug bestiegen. 
Zum Glück wohnt der Vater des Lehrers dort. Und so kommt es, dass die Schüler ganz erstaunliche Dinge erleben; so lernen sie beispiels- weise das Skifahren. Und es wäre eine wunderbare Zeit gewesen, wenn sie nicht ständig Angst gehabt hätten, dass sie den Rest ihres Lebens als Zwerge beim Weihnachtsmann verbringen müssen. Eine köstliche Geschichte von Timo Parvela, die zeigt, dass die Kommunikation zwischen großen und kleinen Menschen ihre Tücken hat - aber zumindest hier im Buch sind die Pannen ein Riesenspaß. 


Prädikat: ****

Donnerstag, 2. August 2012

Sebastian Fitzek: Splitter (Droemer)

"Sie haben ein schweres Trauma erlitten und wollen es aus Ihrer Erinnerung lö- schen?" liest Marc Lukas in einer Anzeige. "Die Psychiatrische Privatklinik Bleibtreu sucht Teilnehmer für einen Feldversuch unter medizinischer Aufsicht." Sebastian Fitzek, mittlerweile als Bestseller-Autor etabliert, widmet sich in seinem jüngsten Psychothriller erneut der großen Frage, die im Mittelpunkt all seiner Bücher steht: Wie manipulierbar ist der Mensch? 
Die Antwort will man inzwischen nicht mehr wirklich wissen. Denn subtil geht es nicht zu in diesen Romanen, da werden Menschen brutal gefoltert, und der Leser soll dem Autor durch all die unappetitlichen Details folgen, bis er endlich die Lösung, quasi als Erlösung, erfahren darf. Ekelhaft! 


Prädikat: -

John Ronald Reuel Tolkien: Der kleine Hobbit (dtv)

Alle Hobbits sind klein; auch befindet sich Bilbo Beutlin, der Held dieses grandiosen Romans, durchaus im Erwachsenenalter. Der Leser ist also geneigt, über diese Verniedlichung einer Zeile, die der Autor einfach als "The Hobbit"  zu Papier brachte, den Kopf zu schütteln - und zu hoffen, dass auf die Übersetzung ansonsten mehr Sorg- falt verwendet worden ist. 
John Ronald Reuel Tolkien, Professor für Altenglisch an der Universität Oxford, gehört zu den Begründern der Fantasy-Literatur. Den Helden aus diesem Buch, insbesondere Bilbo Beutlin und dem Zauberer Gandalf, wird der Leser in der Trilogie "Herr der Ringe" wiederbegegnen. Hier trifft er zudem auf Orks, Elben und andere Bewohner magischer Landstriche - und auf den Drachen Smaug. Denn Bilbo Beutlin soll dem Zwergenkönig Thorin Eichenschild dabei helfen, dieses Ungeheuer aus dem Schloss seiner Vorfahren zu verjagen, und ihren Schatz zurückzugewinnen. Dieses Abenteuer be- steht der Hobbit auch; und dabei gewinnt er zudem einen seltsamen Ring, der ihn unsichtbar werden lässt. Aber das ist schon wieder der Beginn einer neuen Geschichte. 


Prädikat: *****

Mittwoch, 1. August 2012

Anne George: Mörderische Aussichten (dtv)

Überraschung! Ray hat geheiratet. Doch seine Mutter Mary Alice kann sich darüber gar nicht freuen. Denn seine Frau Sunshine ist zwar bildhübsch, doch ihre Herkunft erscheint Mary Alice verdächtig. Also schnappt sie sich Schwesterherz Patricia Anne, und besucht die Familie der unwill- kommenen Schwiegertochter. 
Die haust in diversen Wohnwagen - und schon beim Betreten der ersten Behausung stolpert Mary Alice über eine Leiche. Doch keine Sorge, es geht noch viel schlimmer. Anne George zeigt, wie sich ein solcher Plot steigern lässt. Dennoch wird man das dumme Gefühl nicht los, dass dieser Krimi einem Seminar für kreatives Schreiben entsprungen ist. Das mag daran liegen, dass die Figuren, obzwar in den Konturen deftig angelegt, bis zum Schluss seltsam blass bleiben. Mein Fall ist dieses Buch, da bin ich ganz ehrlich, nicht. 


Prädikat: *

Donna Leon: Auf Treu und Glauben (Diogenes)

Es ist Sommer, und wer schlau ist, der macht um Venedig einen großen Bogen. Das plant auch für Commissario Brunetti, der mit seiner Familie verreisen will - nach Südtirol, in die Berge, wo er sich unterm Federbett verkriechen und dicke Bücher lesen will. Doch daraus wird zunächst nichts. Denn Ispettore Vianello hat ein Problem. Seine Tante, Zia Anita, ist soeben dabei, das bescheidene Vermögen der Familie einem Betrüger in den Rachen zu werfen. 
Eigentlich will sich Brunetti damit nach seinem Urlaub beschäftigen. Doch dann wird ein Toter gefunden. Und der Commissario muss nicht nur einen Mord aufklären, er kommt auch einem Korruptionsskandal bei Gericht und einem Hochstapler auf die Schliche, der sich bei einer Laborantin eingenistet hat - und den Leuten mit Hilfe manipulierter Laborwerte Wunderheilungen vorgaukelt. Wie in den Krimis von Donna Leon üblich, hängt all das irgendwie zusammen. Und erneut hat Brunetti am Ende zwar den Fall gelöst, aber einen Täter kann er nicht verhaften. 


Prädikat: ****

Henning Mankell: Der Feind im Schatten (dtv)

Kurt Wallander wird Großvater. Doch bevor er die Familie, die seine Tochter Linda sich ausgesucht hat, richtig kennenlernen kann, verschwindet ihr angehender Schwieger- vater Hakan von Enke spurlos. Er war einst Korvettenkapitän und ist längst in Pension. Seine Frau bittet Wallander um Hilfe. Dann verschwindet auch sie. Die Polizei steht vor einem Rätsel, und es ist nicht wirklich gelöst, als die Leiche Louises gefunden wird. 
Wallander hat Urlaub und damit Zeit, sich um die Geheimnisse der Schwiegerfamilie zu kümmern - es gibt da so einige, wie er bald herausfindet. Doch zugleich stellt er fest, dass ihn sein Gedächtnis im Stich lässt. Mit diesem zehnten Fall verabschiedet Henning Mankell Kommissar Wallander - in die Demenz, was ganz sicher viele Krimi-Fans bedauern werden. 


Prädikat: ***

Bielefeld & Hartlieb: Bis zur Neige (Diogenes)

Eigentlich wollte Anna Habel, Chef- inspektorin der Wiener Mordkommission, ein ruhiges Wochenende in ihrem Landhaus verbringen. Doch dann gibt es in ganz Salchenberg nur ein Thema: Edelwinzer Freddy Bachmüller wurde tot in seinem Weinkeller aufgefunden. 
Erst ist es nur ein Gefühl, doch bald hat Habel Gewissheit - ein Unglücksfall war das nicht. Und in Bachmüllers Nachlass finden sich seltsame Rechnungen, Adressat: Ein Berliner Promi-Wirt. Als wenig später dieser wichtige Kunde des Winzers erschossen aufgefunden wird, haben auch die deutschen Kollegen ein Rätsel zu lösen. Doch der Zufall hilft der Kripo dabei. Denn Kommissar Thomas Bernhardt pflegt nicht nur eine enge Arbeitsbeziehung nach Wien. Er hatte zudem einst in seinen Jugendjahren mit dem Opfer gemeinsam studiert - und erinnert sich daran, dass es da doch so eine Terrorismusgeschichte gegeben hat. Ein neuer Fall für Berlin und Wien, bei dem mit dem Autorenduo Bielefeld & Hartlieb allerdings etwas die Fabulierlust durchgeht. 


Prädikat: **


Katja Behrens: Der kleine Mausche aus Dessau (dtv)

Moses Mendelssohn wandert von Dessau nach Berlin. Eine solche Reise wäre noch heute ein Abenteuer für einen Jungen, der gerade einmal 14 Jahre alt ist und kein Geld hat. Für einen Juden aber, der aus seiner kleinen Gemeinde zum ersten Mal einen Schritt in die weite Welt unternimmt, in der er sich überhaupt nicht auskennt, war sie 1743 lebensgefährlich. Wie diese Reise tatsächlich verlaufen ist, darüber gibt es keine Berichte. Katja Behrens erzählt in diesem Buch, was Mendelssohn erlebt haben könnte. Eine außergewöhnliche Lektion im Fach Geschichte, nicht nur für Kinder - und obendrein so gut erzählt, dass man die knapp 200 Seiten am liebsten ohne Unterbrechung durchlesen würde.


Prädikat: *****